"Scheitern des politischen Prozesses stärkt al Kaida"

09.08.2007

Interview mit Abduljabbar al Kubaysi, einer einflussreichen politischen Persönlichkeit des irakischen Widerstands und Generalsekretär der Irakischen Patriotischen Allianz, aus Intifada Nr. 24

Frage: Heute sprechen die Medien nur mehr über den konfessionellen Bürgerkrieg im Irak. Was ist da dran?

Tatsächlich provozieren die US-Besatzer und die von ihnen eingesetzte Regierung einen solchen Bürgerkrieg entlang religiöser Linien. Auch die Iraner sind daran interessiert, weil sie ebenfalls die Errichtung eines föderalen Teilstaates im Süden des Iraks im Auge haben. Ziel ist es, Sunniten, Christen und Mandäer zu vertreiben und eine rein schiitische Zone im Süden bis einschließlich Bagdad zu schaffen. Darum auch die Heftigkeit der konfessionellen Attacken in der alles entscheidenden Hauptstadt. Dann ist da noch das Bündnis mit den Kurden im Norden. Auf diese Weise glauben sie den Irak unter ihre Kontrolle bekommen zu können.

Es gibt ausreichend Beweise dafür, dass die USA, ihre lokalen Verbündeten und der Iran die eigentliche Quelle der Gewalt sind. Immer wenn Bomben ferngezündet werden und gezielt Zivilisten töten, kann man davon ausgehen, dass jene ihre Finger im Spiel haben.

Anfangs versuchten die Medien am Ort des Geschehens Augenzeugen zu befragen. Immer wieder kam zu Tage, dass sich niemand selbst in die Luft gesprengt hatte. Nun wird alles abgesperrt und jeder Zugang unterbunden. Man will, dass die Massaker Kämpfern des Widerstands in die Schuhe geschoben werden.

Diese Ausrichtung der Machthaber zeigt sich an tausenden kleinen Beispielen. So wurden im sunnitischen Bagdader Bezirk Adhamiye der Name einer wichtigen Straße über Nacht geändert. Statt einer sunnitischen religiösen Figur wird nun eine schiitische geehrt. Es war die schiitische Gemeinde von Adhamiye selbst, die den alten Namen wieder herstellte, mit dem Ergebnis, dass in der Folge die Schilder abermals unter dem Schutz amerikanischer Hummer ausgewechselt wurden.

Allerdings gelang es bis jetzt nicht den sunnitisch-schiitischen Spalt bis in die Tiefe des Volkes zu tragen. In den großen Städten mag es da und dort gelingen, extrem arme und ungebildete Elemente aufzuhetzen, aber im Großen und Ganzen bleibt das arabisch-irakische Nationalbewusstsein dominant. Der Streit vollzieht sich vor allem auf der Ebene der offiziellen Politik. Die sunnitische Islamische Partei, verbündet mit den USA, streitet mit dem schiitischen Block, verbündet mit den USA und dem Iran, und umgekehrt.

Schauen Sie zum Beispiel nach Nadschaf. Die schiitischen Ayatollahs arabischer Herkunft sprechen sich nach wie vor für die nationale Einheit und gegen die Besatzung aus. Oder nehmen wir das Beispiel der Provinz Diala, die halb schiitisch, halb sunnitisch ist und trotzdem als Hochburg des Widerstands gilt. Zwei große schiitische Stämme, al Buhishma und die Anhänger Ayatollahs Abdul Karim al Moudheris beteiligen sich am Widerstand. Der Sohn des Ayatollahs fiel im Kampf als Kommandant eines Stammeskontingent. In der Provinzhauptstatt Baquba sind Säuberungen nach dem Vorbild von Basra, wo die Sunniten vertrieben werden, oder von Amara, wo die Mandäer vertrieben werden, nicht denkbar. Natürlich greift der Widerstand nicht nur die US-Armee, sondern auch die schiitischen Parteien und Milizen einschließlich der Mahdi-Armee, die sich am politischen Prozess beteiligen, sowie auch iranische Kräfte an. Aber von Angriffen auf Zivilisten auf Basis ihrer Konfession hört man nichts.

Ein anderes Beispiel ist Tal Afar im Nordwesten nahe Mosul. 50-70% der Bevölkerung sind Schiiten, aber dennoch gilt es als eine der Hochburgen des Widerstands.

Im Irak leben große Stämme, deren Angehörige sich über das ganze Land verteilen und beiden Konfessionen angehören. Der Jibouri-Stamm kann zwischen Nasseria und Mosul angetroffen werden. Auch der Shamari- und der Azouwi-Stamm sind multikonfessionell so wie die meisten anderen und die interreligiösen Heiraten haben nicht aufgehört.

F: Anfangs setzten die USA alles auf die schiitische Karte, später wurden sie sich ihres Einflussverlustes bewusst. Sie adaptieren ihre Strategie unter dem Namen "redirection" mit dem Ziel sunnitische Kräfte und Teile des Widerstands am politischen Prozess zu beteiligen. Haben diese Versuche Ergebnisse gezeitigt?

Die USA haben irgendwann einmal bemerkt, dass ihre Verbündeten vor allem dem Iran gegenüber loyal sind. So befinden sich heute 13 Offiziere der iranischen Armee als Abgeordnete im Parlament. Im früheren "Governing Council" gab es von 25 Mitgliedern nur sechs Araber beider Konfessionen. Acht waren Angehörige irakischer Minderheiten. Die Mehrheit stellten also wirkliche Ausländer. Die Hakim-Familie stammt beispielsweise aus Isfahan und noch vor einigen Jahren nannte sie sich al Isfahani.

Die Neokonservativen haben das Modell der ethnischen und religiösen Teilung entwickelt. Sie wollten eine Herrschaft der Schiiten, die im Bezug auf die gesamte arabische Welt eine Minderheit repräsentieren, die man glaubte besser steuern zu können.

Ursprünglich wollten die USA ihren Feldzug bis nach Damaskus fortsetzen und dort die sunnitische Moslembrüderschaft an die Macht bringen. Damaskus wäre dann hinter den irakischen Sunniten, Teheran hinter den irakischen Schiiten gestanden. Statt des Kampfes gegen den Imperialismus hätte sich der Krieg auf konfessioneller Basis vielleicht für Jahrzehnte fortgesetzt. Aber der irakische Widerstand durchkreuzte diese Pläne.

Schnell erkannten die USA, dass sie dem Widerstand allein mit militärischen Mitteln nicht Herr werden konnten. Das ist der tiefere Grund für den Strategiewechsel. Sie initiierten den politischen Prozess und kooptierten die sunnitische Islamische Partei. Sie versuchten so den See trocken zu legen, in dem sich die Widerstandsfische bewegen. Aber schnell verlor die Islamische Partei ihren Einfluss und ihre Führer mussten in die Grüne Zone oder ins Ausland flüchten.

Ebenso wurden sie sich gewahr, dass die Iraner den Staatsapparat stärker durchdrungen hatten als es die von ihnen definierten Spielregeln vorgesehen hätten. Sie änderten ihre Strategie auch um diesen Kollateralschaden zu begrenzen.

F: Wie läuft der Widerstand in militärischer und politischer Hinsicht?

Der Widerstand gewinnt nach wie vor an Stärke. Man begann mit ein paar Tausend Kämpfern. Heute sind es mehr als 100.000. Auch ihre Kampfkraft steigerte sich. Mittelweile konnte die irakische Armee und Polizei infiltriert werden und selbst im Umfeld der US-Armee werden Informationen zusammengetragen. Das gesamte System des Widerstands umfasst vielleicht 400.000 Mann.

Die US-Armee und ihre Alliierten zeigen Zeichen der Demoralisierung. Während der Widerstand um die Befreiung seines Landes kämpft, geht es den feindlichen Soldaten einzig ums Geld. Sie werden zunehmend barbarisch, insbesondere die Söldner. Selbst die Erhöhung des Truppenstandes von US-Armee, irakischer Armee, Söldnern, Milizen zusammengenommen auf rd. eine Million wird nicht helfen.

Betrachten wir die vom Pentagon eingestandenen Verlustzahlen, die selbstverständlich geschönt sind. Lassen wir die Monate spezieller Operationen wie gegen Falluja oder Tal Afar außer Acht, so zeigt sich eine klare Tendenz. Anfangs wurden rund 50 GIs monatlich getötet, später wuchs die Zahl auf 80 und jetzt befinden wir uns bei rund 100 pro Monat.

Der Widerstand ist eine echte Volksbewegung geworden, eine Kultur, die das Volk erfasst hat. Jeder leistet seinen Beitrag. Die Tatsache, dass uns keine einzige Regierung hilft, hat auch ihre guten Seiten. Würden sie zahlen, so schliche sich unweigerlich auch Korruption ein mit der typischen arabischen Fassade. Aber heute gibt es keine Ausreden. Die Menschen sind selbst verantwortlich sich zu organisieren, Geld zu sammeln, Ausbildung zu organisieren und Angriffe zu planen.

Auch politisch gibt es Fortschritte. Die anfänglich hunderten Gruppen haben sich zu acht wesentlichen Formationen zusammengeschlossen. Was bisher noch nicht erreicht werden konnte, ist ein vereinigtes politisches Kommando.

F: Es gibt immer wieder Berichte von Zusammenstößen zwischen dem Widerstand und al Kaida. Welche Beziehungen hat der Widerstand zu den salafistischen und takfiristischen Gruppen?

Erinnern wir uns daran, wie der Westen anfangs den Widerstand als von ausländischen Kräften und Anhängern des alten Regimes geführt, denunzierte. Sie wollten damit ausdrücken, dass der Widerstand keine Unterstützung im Volk hätte. Tatsächlich entwickelte sich der Widerstand von der Basis zur Verteidigung der eigenen Identität gegen die unglaublichen Provokationen des amerikanischen Neokolonialismus. Weder ausländische Kämpfer noch Baathisten waren die Triebkräfte beim Beginn des Widerstands.

Es war Saddam selbst, der wesentlich dazu beitrug, die Baathisten zum Widerstand zu bringen. Er versteckte sich keineswegs um sein nacktes Leben zu retten, wie vielfach berichtet wurde. Nein, er bewegte sich von Stadt zu Stadt um Scheichs und Offiziere etc. zu kontaktieren. Er wies sogar seine Leute an, sein Konterfei nicht als Symbol zu verwenden, sondern die Nation und den Islam in den Vordergrund zu stellen. Erst in den folgenden Monaten konnten sich die Baathisten als Partei reorganisieren. Aus der Sicht des Widerstands war es ein großes Glück, dass Saddam so lange nicht gefasst werden konnte.

Was al Kaida betrifft, so gab sowas in den ersten beiden Jahren gar nicht. Selbst die Amerikaner sprachen vor allem von ausländischen Kämpfern, die in erster Linie über Syrien ins Land kämen. Sie versuchten einen Vorwand für einen Angriff auf Syrien zu schaffen, obwohl Damaskus gar nichts zur Unterstützung des Widerstands betrug. Im Gegenteil, zumindest in den ersten Monaten übererfüllten sie die aus Washington kommenden Forderungen um eine Aggression abzuwenden.

In den ersten Jahren handelte es sich vielleicht um 1000 bis 1500 Kämpfer, sowohl ausländischer als auch irakischer Provenienz. Ihre militärische Aktivität blieb beschränkten Umfangs. Übernahmen sie in diesem Zeitraum für etwa 800 Angriffe die Verantwortung, so führte der Widerstand die gleiche Zahl an Angriffen pro Woche durch.

Später gewannen sie immer mehr an Unterstützung und dieser Prozess setzt sich weiter fort. Ihre großen finanziellen Ressourcen verprassen sie nicht, sondern führen ein sehr spartanisches Leben. Alles wird dem Kampf geopfert und untergeordnet - ein Verhalten, dass große Anziehungskraft ausübt. Die meisten Jugendlichen schließen sich ihnen nicht aufgrund ihrer Ideologie an, sondern weil sie ihnen seinen Platz im Kampf bieten.

Im Osten braucht man keine Bücher zu schreiben, um die Menschen zu überzeugen. Wenn dein persönliches Leben mit den von dir proklamierten Zielen übereinstimmt, so wird die Botschaft ihre Wirkung nicht verfehlen.

Der von den USA eingeleitete politische Prozess stärkte in letzter Konsequenz al Kaida. Diejenigen, die dem Ruf der Amerikaner in den politischen Prozess folgten, argumentierten, dass sonst der Iran die Kontrolle übernehmen würde. Nachdem man diese Gefahr abgewendet habe, könnte man dann auch die Amerikaner hinauswerfen. Natürlich scheiterten sie alle. Al Kaida hatte und hat indes eine sehr klare und einfache Botschaft: nur der fortgesetzte bewaffnete Kampf könne etwas gegen die Besatzung ausrichten. Die Realität bestätigt sie.

Al Kaida bot einigen Widerstand leistenden sehr religiösen Stämmen Geld, das diese für ihren Kampf gut gebrauchen konnten. So konnten sie eine Koalition aus sechs Gruppen bilden, fünf lokalen in Ramadi, Falluja, Haditha etc. sowie al Kaida, unter dem Namen Schura-Rat der Mudschahedin. Das bedeutete einen großen Schritt vorwärts für sie. Bis heute kämpfen sie unter diesem Namen, und nicht als al Kaida.

Während sie über große materielle Ressourcen und Versorgung von außen verfügen, bleiben die anderen Gruppen des Widerstands völlig auf sich allein gestellt. Heute können wir sagen, dass al Kaida vielleicht die stärkste Organisation des Widerstands ist. Sie marschieren getrennt von allen anderen, trotzdem gibt es lokale militärische Kooperation in der Verteidigung gegen die Besatzer.

Der Islam ist eine Waffe um die Menschen zum Aufstand zu bewegen. Die islamische Geschichte, die islamischen Vorbilder, die islamische Kultur wird dazu benutzt, um die Menschen in den Kampf zu stoßen, denn sie betrachten den Islam als ihre Identität. Der Koran fordert die Muslime zum Dschihad auf, wenn islamisches Land von außen angegriffen wird. Dass bewaffneter Widerstand zur religiösen Pflicht wird wie fasten und beten, ist in der öffentlichen Meinung völlig unbestritten.

Alle Widerstandsgruppe, einerlei ob islamisch oder nicht, müssen auf diese Stimmung Rücksicht nehmen und sich ihrer bedienen. Nehmen wir beispielsweise die Stellungnahmen der Baath-Partei und von Izzat al Durri persönlich. Nach seinem Duktus würde man annehmen, dass es sich um einen extremen Islamisten handelte. Aber die Verwendung dieser Sprache heißt nicht, dass sie alle Islamisten geworden wären.

In dieser islamischen Stimmung verhallen die marxistischen oder rein nationalistischen Aufrufe. Die Jugend ist vom Islam angezogen. Das hilft indirekt al Kaida. Wer ihr beitritt denkt nicht etwas abnormales zu tun, sondern im Gegenteil nur konsequent zu handeln.

F: Aber was ist mit den konfessionellen Angriffen. Trägt nicht al Kaida zumindest Teilschuld?

Die gesamte Verantwortung trägt die Regierung sowohl in ihrer schiitischen als auch ihrer sunnitischen Komponente, die USA, Israel und der Iran. Ziehen Sie 95% von den al Kaida zugeschriebenen Angriffen ab. Über die 5%, die verbleiben, hört man nur die Hälfte der Wahrheit. Manchmal vergilt al Kaida Angriffe der Regierung oder der Milizen, in dem schiitische Viertel attackiert werden. Sie wollen den Sunniten damit zeigen, dass die sie verteidigen und dass sie nicht flüchten sollen. Sie wollen damit die Pläne zur Vertreibung der Sunniten aus Bagdad durchkreuzen.

Dabei handelt es sich aber keineswegs um eine Strategie, sondern um einige wenige Reaktionen auf große Massaker. Außerdem bekennt sich al Kaida immer zu ihren Angriffen. Sie richten eine Botschaft an die Vernünftigen unter den Schiiten: beendet die Verbrechen, die in eurem Namen begangen werden, ansonsten werdet ihr die Verantwortung dafür tragen müssen. Wir sind fähig mit zehnfacher Kraft zurückzuschlagen.

Ich will dieses Herangehen nicht verteidigen, ich möchte aber die verzerrten Fakten richtig stellen.

Es gibt ein weiteres eindringliches Beispiel. So wie der gesamte Widerstand begann auch al Kaida in Falluja. Obwohl es eine zu 100% sunnitische Stadt ist, flohen nach Beginn der Besatzung rund 12.000 schiitische Familien aus dem Süden nach Falluja, da sie verdächtigt wurden Baathisten zu sein. Sie wurden aufgenommen und von der Bevölkerung versorgt, denn man betrachtete sie als dem Widerstand nahe stehend. Bis heute befinden sich rund 20.000 schiitische Flüchtlinge in Falluja und ihnen wurde bis heute kein Haar gekrümmt, nicht einmal von al Kaida. Es gibt in Falluja zwischen den verschiedenen Gruppen des Widerstands natürlich Konflikte um Einfluss, aber eben nicht auf konfessioneller Basis.

F: Vor zwei Jahren gründeten sie die Patriotische Islamische Nationale Front, die die Baath-Partei, die Irakische Kommunistische Partei (Zentralkommando) und die Irakische Patriotische Allianz u.a. umfasst. Es gibt einige religiöse Würdenträger beider Konfessionen, die die Front unterstützen, aber die großen sunnitischen militärischen Formationen des Widerstands scheinen nicht vertreten zu sein. Ist die Zeit für eine solche Front noch nicht reif?

Wir sind eine ausschließlich politische, und keine militärische Front. Das heißt nicht, dass es keine Beziehungen gäbe, aber wir beschränken uns strikt auf die politische Sphäre. Die heute dominanten militärischen Organisationen entstanden aus dem bewaffneten Kampf von unten und haben keine politische Vertretung. Wir sind auch nicht daran interessiert, die eine Gruppe hier, den anderen Führer zu rekrutieren. Wir suchen den umfassenden Dialog mit allen Widerstandsgruppen mit dem Vorschlag ein vereinigtes politisches Kommando gegen den sogenannten politischen Prozess der Amerikaner zu gründen. Vielleicht funktioniert es anders herum. Die militärischen Gruppen bilden eine Koordination und wir beteiligen uns daran. Uns geht es nicht darum uns zu beweisen, sondern die politische Vereinigung zu Wege zu bringen.

Immer wenn wir glaubten knapp vor dem Ziel zu sein, ereignete sich etwas, was den Fortschritt zunichte machte. Dahinter stehen der Einfluss und die Einmischung der benachbarten arabischen Regime.

Was al Kaida betrifft, so bleiben sie immer separat und wollen in einen solchen Prozess nicht integriert werden.

F: In all den Jahren des Widerstands gab es immer das Problem des zwiespältigen Verhaltens der Bewegung Muqtada as Sadrs, der auf der einen Seite zur Hauptstütze der Regierung und treibende Kraft der konfessionellen Angriffe wurde, auf der anderen Seite sich aber gegen die Besatzung, gegen die von den USA oktroyierte föderale Verfassung und selbst gegen den konfessionellen Konflikt aussprach. Könne zumindest Teile seiner Bewegung zum Widerstand gezogen werden?

Anders als die meisten unserer Freunde betonte ich immer, dass Muqtadas Bewegung sehr breit ist und viele Baathisten, Marxisten und Nationalisten zum Schutz vor den iranischen Milizen ihr beitraten. Vielleicht stammt die Hälfte aus anderem politischen Umfeld und waren keine traditionellen Anhänger seiner Kleriker-Familie. Welche Fehler er auch begehen würde, man konnte darauf hoffen, dass diese Leute sie korrigieren könnten oder dass man zumindest mit einigen kooperieren könne. Außerdem sind die Masse seiner Anhänger extrem arm und anderes als die anderen schiitischen Parteien stützen sie sich nicht auf wohlhabende Händler, die an einem Tag gegen die Besatzung sprechen und am nächsten mit dieser profitable Verträge unterzeichnen. Die Opposition seiner Basis gegen die Besatzung ist echt.

Ich glaube, dass Muqtada letztendlich von seinen Verbündeten Iran, vor allem Ayatollah Kazem Haeri, der der Nachfolger seines Onkels ist, und der libanesischen Hisbollah zum Einlenken gedrängt, in einem gewissen Sinn sogar betrogen wurde. Das ist nicht zuletzt deswegen möglich, weil er jung, unerfahren und unreif ist. Dreimal wurde er von Hisbollah-Abgesannten besucht, die ihm einredeten er solle ihrer Linie im Libanon folgen, am politischen Prozess teilnehmen, zu den Parlamentswahlen kandidieren, Positionen im Staatsapparat und vor allem in der Armee einnehmen und so den Aufbau einer starken Partei ermöglichen. Sonst würde al Hakim das Spiel machen und auf Basis dieser Ressourcen die Überhand behalten. Darum kandidierte seine Bewegung auf der Liste seines Erzfeindes Hakim.

Jeder weiß, dass sein Vater auf Befehl von Hakim ermordet wurde, obwohl offiziell Saddam beschuldigt wird. Anfangs griff Muqtada die gesamte Gruppe einschließlich Ayatollah al Sistani für ihre Kooperation mit den USA auch heftig an. Er bezeichnete sie sogar als Ungläubige. Darum konspirierten diese mit dem Statthalter Bremer um ihn zu töten. Tatsächlich griffen ihn die USA auch heftig an. Unter diesem Druck gab er schließlich nach, denn er fürchtete die Auslöschung seiner Bewegung.

Heute sind seine Behauptungen, er sei gegen die Verfassung oder gar Besatzung schlicht nicht wahr. Er ist voll in den politischen Prozess involviert. Er stellt 32 Parlamentarier und sechs Minister, alles im Dienste der Besatzung.

Dann drängten sie ihn zu den Angriffen auf die Sunniten mit dem Ziel eines schiitischen Mahdi-Staates. An diesem Punkten verließen viele seiner Anhänger die Bewegung, während ganz andere dazu stießen. Es handelt sich um einen tiefgreifenden Prozess der Umwandlung. Mittlerweile haben auch die iranischen Revolutionsgarden seine Miliz durchsetzt und stellen vielleicht die Hälfte der Truppe.

Bis 2004 befand sich Muqtada auf der richtigen Seite und er kam zum Beispiel als Solidarität nach Falluja. Aber nach den Schlägen 2005 wechselte der Seiten, so dass es höchst unwahrscheinlich geworden ist, dass er für den Widerstand gewonnen werden kann. Manchmal spricht er gegen die Angriffe auf Sunniten, muss aber gleichzeitig zugeben, dass seine Leute daran beteiligt sind. Er entließ deswegen sogar drei seiner Führer. Armut und Unbildung sind ein zweischneidiges Schwert. Wenn Du armen und ungebildeten Leuten Waffen und Geld gibst, wenn Du sie stark machst, können sie versuchen die Zügel in die eigenen Hände zu nehmen. Muqtada hat teilweise die Kontrolle über seine Milizen verloren, die sich wie Mafiabanden verhalten und auf ihre eigene Rechnung morden.

F: Es gibt immer wieder Berichte über schiitische Stämme, die gegen die Regierungstruppen kämpfen. Können Sie dieses Phänomen erklären?

Anfangs verfolgten und töteten iranische Milizen im Süden und Osten ehemalige Offiziere und bezichtigten alle ihre Feinde Baathisten zu sein.

Trotz ihrer Zugehörigkeit zu Stämmen, getrauten sich diese nicht ihre Mitglieder zu verteidigen. Mit dem Zusammenbruch der staatlichen Strukturen gewannen die Stämme aber an Einfluss und Macht. Heute können sie die Ermordung ihrer Mitglieder durch Stammesfremde nicht mehr hinnehmen und leisten Widerstand. Es gibt viele Beispiele, die die Veränderung des Klimas zeigen. Erst vor kurzem kam es bei Shuk ash Shuyuk im Süden zu einer zweitägigen Schlacht, nachdem proiranische Milizen einen früheren Offizier festnehmen wollten. Hunderte griffen zu den Waffen. Er wurde nicht gefangengenommen, sondern fiel im Kampf. Ergebnis sind verschobene Kräfteverhältnisse und sein Stamm bildete mit anderen eine Art Beistandspakt gegen die Regierungskräfte einschließlich der Mahdi-Armee. Bis auf weiteres bleibt das Phänomen aber lokal beschränkt und erreicht nicht die politische Ebene.

Es gibt einen anderen wichtigen kulturellen Faktor. Die Milizen bringen für die Stämme inakzeptable Verhaltensweisen mit. Unter dem Deckmantel der schiitischen Mutha-Ehe importieren sie Prostitution. Und sie verbreiten den Gebrauch von Haschisch.

F: Bekommen Sie internationale Unterstützung?

Wir werden von arabischen Politikern zur Selbstinszenierung missbraucht, die uns trotz aller Worte keine wirkliche Unterstützung zukommen lassen. Sie sprechen in Fünf-Sterne-Hotels und auf den Satellitenkanälen gegen die Besatzung und von den amerikanischen Verbrechen. Das ist alles. Sie können sehr viel mehr tun, zum Beispiel Geld sammeln, gegen ihre Regierung demonstrieren oder die Schließung der irakischen Botschaften erzwingen. Aber sie wissen, dass da die rote Linie der Unterstützung des Terrorismus ist, wie sie die USA gezogen haben. Wir wissen aus Algerien und Palästina wie wichtig internationale Unterstützung ist und wir haben selbst materielle Solidarität geleistet. Wir haben hohe Summen gesammelt und auch heute wäre das einfache Volk dazu bereit. Aber keiner traut sich für den irakischen Widerstand Geld zu sammeln. Eigentlich betrügen diese Führer ihre Anhänger, denn diese nehmen an, dass sie geheime Unterstützung gewähren. Aber ich kann Ihnen versichern, dass wir von niemanden nennenswerte ausländische Hilfe erhalten.

Paris, Juli 2007
Willi Langthaler