"Unsere Moral können sie nicht zerstören"

04.09.2003

Delegation aus den besetzten palästinensischen Gebieten zurückgekehrt

Ein Teilnehmer aus Hamburg berichtet

Vom 12. bis zum 20.April 2003 befand sich eine Solidaritätsdelegation bestehend aus sechs Teilneh-merInnen aus verschiedenen Städten in Deutschland – darunter auch ein Mitglied des Palästina Solidaritätsbündnisses aus Hamburg – in Palästina. Trotz einiger Schwierigkeiten gelang es der Gruppe auch verschiedene Brennpunkte des Konfliktes in der Westbank – Hebron, Ramallah, Nablus, Jenin - zu besuchen und sich ein eigenes Bild vor Ort zu machen, welches durch viele Gespräche mit palästinensischen und jüdischen Organisationen ergänzt wurde.

Bethlehem, Beit Sahour, Beit Dschala- eingeschnürte Ortschaften

Die Gruppe war die meiste Zeit in einem privaten Hostel in Beit Sahour untergebracht – einem Vorort von Bethlehem, von wo aus Besichtigungstouren unternommen wurden. Überall stießen wir dabei auf von der israelischen ("Verteidigungs"-)Armee (IDF) mit Panzern und Bulldozern unpassierbar ge-machte Zufahrtsstraßen in die Ortschaften. Die palästinensische Bevölkerung ist daher gezwungen, entweder weiträumige Umwege in Kauf zu nehmen oder jedes Mal ihre gesamten Sachen mühselig zu Fuß über aufgeschüttete Schutt- und Sandhaufen zu tragen. Das gilt natürlich auch für Transporte von Kranke und Verletzte. Die meisten Ortschaften sind nur noch über eine Zufahrtsstraße mit dem Auto zu erreichen, welche leicht von der Armee kontrolliert und abgesperrt werden kann. In Beit Dschala und Beit Sahour sahen wir etliche zerstörte und beschädigte Häuser, die immer wieder aus den illegal errichteten israelischen Siedlungen Gilo und Har Homa beschossen werden oder aus der Luft mit F16-Kampfjets und Apache-Hubschraubern bombardiert wurden. Auch in Bethlehem sind die Zerstörungs-folgen des Armeeeinmarsches im letzten Jahr noch deutlich zu sehen, als diese tagelang die besetzte Geburtskirche im Zentrum belagerte und beschoss. Seitdem hat die Armee die Hauptstraße gesperrt, so dass die Stadtmitte weiträumig umfahren werden muss.
Der Siedlungsring auf den Hügeln schließt sich immer enger um Bethlehem und seine Vororte. Sied-lungsstraßen, die von den PalästinenserInnen nicht genutzt werden dürfen, werden weiter ausgebaut, und der in den letzten Tagen begonnene – nur als "Mauer der Apartheid" zu bezeichnende – drei Me-ter hohe doppelte Sicherheitszaun mit Stacheldraht und einem breiten Graben nimmt immer bedrohli-cher Gestalt an. Er soll das gesamte umzäunte Gebiet Groß-Jerusalem einverleiben, um so vollendete Tatsachen für zukünftige "Friedensverhandlungen" zu schaffen.
An die 17 Häuser der Bevölkerung in unmittelbarer Nachbarschaft wurden kurzfristig aus "Sicher-heitsgründen" zerstört, wobei viele Menschen verletzt wurden. Unser Guide erzählte uns, dass der Boden hier vorher zur A-Zone gehörte (also laut Oslo-Vertrag unter palästinensischer Verwaltung), inzwischen aber zur israelisch verwalteten C-Zone deklariert wurde. Die BewohnerInnen bauen die Häuser dennoch wieder auf und haben vor Gericht geklagt.

Hebron – eine belagerte Stadt

Ein Ausflug nach Hebron bescherte uns die ersten unmittelbaren Erfahrungen mit der Besatzungsar-mee. Nachdem wir auf einer Siedlerstraße, die nur mit israelischem gelben Nummernschild befahren werden darf, kurz vor Hebron angekommen waren, "lösten" wir - anscheinend allein mit unserer An-wesenheit - eine Blockade der israelischen Armee "auf". Ohne Grund hatten Soldaten über drei Stun-den über hundert PalästinenserInnen auf beiden Seiten daran gehindert, zu Fuß die Straße zu überque-ren um nach Hebron oder in andere Orte zu gelangen. Bei unserem Eintreffen zogen sich die Soldaten zurück.
Hebron selbst bietet trotz des lebhaften Marktgeschehens ein gespenstisches Bild. Rund vierhundert extremistische Siedler haben die Innenstadt im Tal okkupiert, beschützt von über zweitausend Solda-ten. Von hier aus terrorisieren sie die rund hundertfünfzig tausend PalästinenserInnen in der Stadt, um sie aus ihren Häusern zu vertreiben und diese anschließend in Beschlag zu nehmen. Die Stadt ist in mehrere Sektoren eingeteilt und von etlichen Checkpoints kontrolliert, die ein Wechseln von einem Stadtteil in den nächsten oft unmöglich machen oder lange Umwege aufzwingen. Nahezu alle fünf-hundert Meter liegen Stacheldrahtrollen für kurzfristige Absperrungen bereit.
Auch wir wurden auf dem Weg zur Cordoba-School, einer Grundschule für Mädchen, an zwei schwer bewachten Checkpoints zurückgewiesen und gelangten nur auf Schleichwegen über einen Friedhof dorthin. An den Wänden im Schulhof Hassschmierereien – "Kill all Arabs" von den Siedlern, die in unmittelbarer Nachbarschaft wohnen und vor allem nachts in das Schulgelände eindringen. Nahezu täglich werden die kleinen Mädchen seit Wochen auf ihrem Schulweg angepöbelt und mit Steinen angegriffen, wie uns die Direktorin und die Mädchen berichteten. Viele Kinder wurden daher aus der Schule von den Eltern herausgenommen, so dass von den 450 Schülerinnen nur noch hundert übrig blieben. Wie alle Kinder dieser Welt träumen auch sie von einer friedlichen Zukunft, einem Leben ohne Angst. Für sie ist jeder Tag eine neue Herausforderung gegen die alltäglichen Schikanen zu be-stehen, zumal sie auch in direkter Nachbarschaft zu einer Siedlung wohnen und gar keine Alternative haben, wie sie uns erzählten. Anschließend konnten wir selbst erleben, wie Siedlerkinder die verängs-tigten Mädchen beim Verlassen der Schule mit Steinen bewarfen und fanatisch beschimpften. Auch wir wurden, als wir zum Schutz nach draußen eilten, angegriffen, aber die Soldaten hielten die Kinder schnell – wohl aufgrund unserer Anwesenheit – zurück, was aber sonst eher selten passiert, wie wir von der Direktorin erfuhren.
Auch zu unserer nächsten Station, einem bedrohten Haus in unmittelbarer Nachbarschaft der Siedlung Qiriat Arba, gelangten wir nur auf Umwegen. Der Boden, auf dem diese Siedlung errichtet wurde, gehörte der Familie und wurde enteignet. Geblieben ist der 17-köpfigen Familie nur ihr Haus, das jeden Abend von den Soldaten überfallen wird, die dann alles durchsuchen und verwüsten, herum-schießen und die Familie drangsalieren. Auch wurde das Haus schon mehrfach von der Siedlung aus beschossen. Dennoch lässt sich die Familie nicht vertreiben. Sie erzählten uns ihre Geschichte, als plötzlich vier Soldaten kamen, die ihre M16-Gewehre auf uns richteten. Was wir hier suchten, das sei militärisches Sperrgebiet. Sie hielten uns eine Weile in Schach um auf Order zu warten, um uns dann aufzufordern, ihnen unsere Filme zu geben, da wir "militärische Einrichtungen" fotografiert hätten. Drei Stunden lang erlebten wir die ganze Arroganz einer Besatzungsarmee, denn wir weigerten uns erfolgreich und wurden daher gewaltsam festgehalten. Dann brachten sie uns zum Eingang der Sied-lung und drohten ultimativ, uns an die Polizei zu übergeben, die uns inhaftieren würde, wenn wir ih-nen nicht unsere Filme aushändigten. Wir könnten sie später ohne die "Militäraufnahmen" bei der deutschen Botschaft abholen. Verunsichert durch die Nachrichten von den kürzlichen gezielten Tötun-gen zweier FriedensaktivistInnen vom International Solidarity Movement (ISM) in Gaza und dem insgesamt schärferen Vorgehen der IDF gegen ausländische BeobachterInnen, gaben wir ihnen schließlich die Filme und konnten gehen.

Israelische Pläne für ein metropolitanisches Groß-Jerusalem

In Jerusalem trafen wir VertreterInnen verschiedener israelischer Menschenrechtsorganisationen. Ser-gio Yahni vom Alternative Information Center beurteilte die vorgeschlagene Roadmap skeptisch und befürchtete eine Wiederholung von Oslo. Er warnte vor einer erneuten Falle für die PalästinenserIn-nen. Gleichzeitig verwies er auf die immer schlechtere wirtschaftliche Situation des israelischen Staa-tes, die auch mit den jährlich drei Milliarden US-Dollar Finanzhilfe aus den USA nicht mehr aufge-fangen werden könne.
Jeff Halper vom Israelischen Komitee gegen die Häuserzerstörung klärte uns bei einer Exkursion über die aktuellen Siedlungspläne der israelischen Regierung auf. Für ihn stellt sich die Situation nach dem Oslo-Abkommen von 1993 mit über vierhundert Checkpoints in der Westbank und einem immer en-ger werdenden Netz von Siedlerstraßen (nur für Israelis) als "Matrix der Kontrolle" dar. Er verglich diese mit der strategischen Besetzung der wichtigsten Plätze in einem Gefängnis, in dem auch die Gefangenen über 90 % des Platzes beanspruchen, die Kontrolle aber von den Wächtern ausgeübt wird. Nach einer Studie der israelischen Menschenrechtsorganisation Bet´selem nehmen die israelischen Siedlungen im Westjordanland nur 1,7 % der Fläche ein, üben aber die Kontrolle über 41 % des ge-samten Gebietes aus. Palästinensern wird grundsätzlich die Genehmigung verweigert, auf ihrem eige-nen Grund und Boden zu bauen. So schwebt über Tausenden von palästinensischen Häusern das Damoklesschwert des jederzeit vollstreckbaren Abrissbefehls. Aktuell wird das Vorhaben umgesetzt, Jerusalem in eine metropolitane Großregion umzuwandeln, wodurch weitere palästinensische Gebiete annektiert werden sollen.
Um hier für internationale Verhandlungen vollendete Tatsachen zu schaffen wird unentwegt gebaut - ohne Rücksicht auf bereits bestehende palästinensische Häuser. So erging es auch der Familie von Salime, der uns die traurigen Überreste seines Wohnhauses am Rande der palästinensischen Ortschaft Anater zeigte. Vor einer Woche zerstörte es die israelische Armee zum vierten Mal in Folge. Nachdem er jahrelang vergeblich versucht hatte eine Baugenehmigung auf seinem Grundstück zu erhalten, ent-schloss er sich – wie viele Palästinenser – das Haus trotzdem zu bauen. Kaum war es fertig gestellt und die Familie eingezogen, kamen über dreihundert Soldaten in der Frühe mit Bulldozern, scheuch-ten die Familie mit Gewehren aus dem Haus und zerstörten es. Dreimal wurde es daraufhin mit Unter-stützung des Komitees von Jeff Halper und mehreren hundert Freiwilligen immer wieder aufgebaut und jedes mal nach Fertigstellung wieder von der Armee dem Erdboden gleichgemacht. Salime würde es ein fünftes Mal aufbauen, aber seine Familie ist durch die Vorkommnisse inzwischen so verstört, dass er ihr das nicht mehr zumuten kann.

Ramallah und Bir Zeit-Universität – beschwerlicher Alltag für die PalästinenserInnen

Den Checkpoint nach Ramallah konnten wir nur zu Fuß mit unserem Gepäck passieren. Auf beiden Seiten der Kontrollstelle hatten sich - wie jeden Tag - lange Ketten von Menschen gebildet, die darauf warteten von den israelschen Soldaten kontrolliert zu werden, ohne zu wissen, ob sie dann tatsächlich passieren können oder aus fadenscheinigen Gründen daran gehindert werden. Auf der anderen Seite wurden wir schon erwartet und mit dem Auto zum Gebäude des UHWC (Union of Health Work Co-mmittees) in Ramallah gebracht.
Dort wurden wir von VertreterInnen verschiedener palästinensischer Menschenrechtsorganisationen empfangen: ADDAMEER (Gefangenenhilfsorganisation), DCI (Komitee zur Verteidigung der Kin-der), UHWC (Gesundheitskomitees) und PAC (Popular Art Center). Sie alle schilderten uns die aktu-ellen Auswirkungen der Besatzung, die das palästinensische Leben immer mehr einschnürt und auch die Arbeit dieser Organisationen drastisch erschwert.
Die Bir Zeit-Universität liegt außerhalb der Stadt auf einem Berg und ist nur zu Fuß zu erreichen. Der Serpentinenweg dorthin ist zwar befahrbar aber immer wieder von links und rechts durch Hindernisse verengt, wodurch Fahrzeuge zu einer langsamen Slalomfahrt gezwungen werden. Außerdem haben die Wenigsten - eigentlich nur Ambulanz- und Arbeitsfahrzeuge - dafür eine offizielle Genehmigung. Wer es dennoch versucht, läuft Gefahr, von israelischen Soldaten mit Militärjeeps verfolgt zu werden. Oh-ne Genehmigung fahrenden Autos werden die Reifen zerschossen und die Scheiben eingeschlagen. Außerdem wird der Autoschlüssel kassiert, der Fahrer vorübergehend festgenommen und mit einer hohen Geldstrafe belegt.
Es handelt sich hier wie bei vielen anderen Maßnahmen um willkürliche Schikanen, die den palästi-nensischen Alltag erschweren und nur schwer planbar machen. Die StudentInnen sind durch das er-zwungene Zu-Fuß-Gehen genötigt, um fünf Uhr aufzustehen, wenn sie um zehn Uhr Vorlesung haben, wie sie uns verbittert erzählten.
Die größte Universität im Westjordanland ist international ausgerichtet und hat einen sehr hohen Frauenanteil in allen 29 Fakultäten. Englisch ist die Hauptsprache und die StudentInnen kommen auch aus verschiedenen anderen Ländern. Gegen die ständigen Ausgangssperren verbunden mit Abriegelungen hat die Bir Zeit-Universität im Internet ein einfaches System der Kommunikation geschaffen, die den Vorlesungsbetrieb aufrecht erhalten kann, wie uns die StudentInnen stolz erzählten. Tägliche politische Treffen sind hier kein Luxus sondern pure Notwendigkeit, um sich gegen die ständig neuen Besatzungsschikanen zur Wehr zu setzen.
Auf dem Rückweg hielten wir bei Arafats ehemaligem Amtssitz, der letztes Jahr von der israelischen Armee mit F 16-Flugzeugen, Apache-Hubschrauber und Panzern in ein Trümmerfeld verwandelt wor-den war. Wir trafen ein paar Mitglieder von Arafats Leibgarde (Force 17) in den Ruinen, die uns von der Belagerung letztes Jahr erzählten. Einer von ihnen wurde dabei zum Krüppel geschossen und sitzt seitdem im Rollstuhl. Wir durften sie nicht fotografieren, da sie immer noch auf der Fahndungsliste der israelischen Armee stehen.
Dass die israelische Zerstörungspolitik sich nicht nur gegen die Bevölkerung richtet, sondern auch gezielt gegen deren gesamte Kultur und Tradition und damit gegen die palästinensische Identität, er-fuhren wir beim Besuch im Popular Art Center (Jugendkulturzentrum) in der Innenstadt von Ramal-lah. Dort wurde uns stolz das größte Archiv für palästinensische Musik (traditionell und modern) ge-zeigt. Außerdem befindet sich hier das einzige Kino in Ramallah mit einem großen Filmarchiv und die einzige palästinensische Kindertanzschule im Westjordanland. Die Räumlichkeiten mussten neu reno-viert werden, nachdem die israelische Armee hier letztes Jahr grundlos alles verwüstet hatte.

Nablus – Eine Stadt im permanenten Belagerungszustand

Wir standen noch ganz unter dem Eindruck der Festnahme unseres Begleiters Jihad, der uns in der Frühe bei unserem Schlafplatz abgeholt hatte. Auf dem Weg nach Nablus waren wir in einer Militär-kontrolle gestoppt worden. Jihad, der erst vor kurzem wegen seiner studentischen Aktivitäten inhaf-tiert gewesen war, musste aussteigen um erneut festgenommen zu werden. Die willkürliche Festnahme des gestern noch ausgelassen fröhlichen jungen Mannes zeigte uns, wie schnell man in Palästina von der brutale Besatzungsrealität eingeholt wird.
Am Checkpoint mussten wir aussteigen und zu Fuß weitergehen. Mit einem Taxi fuhren wir Richtung Nablus weiter. Auch den dortigen Checkpoint konnten wir nur zu Fuß passieren. In Nablus empfingen uns mehrere Mitglieder des örtlichen Gesundheitskomitees (UHWC). Diese Komitees betreiben Ge-sundheitsstationen in einigen Städten, da die wenigen Krankenhäuser meist aufgrund der israelischen Absperrungen nicht rechtzeitig zu erreichen sind. Die meisten arbeiten ehrenamtlich und oft unter Lebensgefahr, weil die Ambulanzfahrzeuge häufig von der IOF (Israeli Offensive Forces) beschossen werden. Auf dem Weg durch die letztes Jahr schwer zerstörte Altstadt erzählten uns unsere Begleiter, dass die IOF fast jede Nacht Häuser nach jungen Leuten durchsucht, immer wieder Häuser zerstört, wobei es oft zu Schiessereien mit dem palästinensischen Widerstand (Tansim) kommt. An den Haus-wänden zeugen Märtyrerplakate von den Opfern der permanenten Auseinandersetzungen mit der IOF. Zu jedem konnten uns unsere Begleiter eine Heldengeschichte erzählen. Sie bleiben auch nach ihrem Tod für alle präsent.
In einem Häuserkomplex, wo letztes Jahr zu Ostern nach dem Überfall der IOF schwere Gefechte gewütet hatten und über sechzig Menschen gestorben waren, besuchten wir eine palästinensische Fa-milie, die insgesamt zu sechzehnt über 13 Stunden lang als menschliche Schutzschilder in ihrer Woh-nung von israelischen Soldaten missbraucht worden waren- in einem kleinen Raum von zwölf Quad-ratmetern. Die Kinder sind seitdem schwer traumatisiert und in psychotherapeutischer Behandlung. In der Wohnung ist nach wie vor alles zerstört. Rund um die Trümmer einer bombardierten ehemaligen Seifenfabrik, in der 120 Menschen beschäftigt waren, sahen wir eine Schneise, durch die sich die IOF mit Bulldozern und Merkava-Panzern letztes Jahr den Zugang in die Altstadt gebahnt hatte. Ein gan-zes Stadtviertel war auf diese Weise zerstört worden. Auf dem Weg zum Auto kamen wir an einer Mädchenschule vorbei, die von der IOF zuerst als Verhörzentrum später als Gefängnis missbraucht wurde.
In Al Ain, einem der Flüchtlingslager rund um Nablus, besuchten wir eine Märtyrerfamilie. Die An-gehörigen eines örtlichen Führers der PFLP (Volksfront zur Befreiung Palästinas) erzählten uns, wie er vergangenes Jahr von den Soldaten auf dem Dach seines Familienhauses gestellt und von hunderten Kugeln durchsiebt wurde. Überall in dem Flüchtlingslager sahen wir sein Antlitz auf den Wänden gesprüht. Die Volksfront hat hier offensichtlich viele AnhängerInnen.
Als nächstes waren wir zu Gast bei der Familie von Shaden Abu Hijleh, einer 62-jährigen palästinen-sischen Friedensaktivistin, die am 1.Oktober letzten Jahres aus heiterem Himmel von israelischen Soldaten beschossen wurde, als sie zusammen mit ihrem Mann auf der Terrasse saß. Aufgrund der Weigerung, eine Ambulanz zu rufen, starb Shaden an ihren schweren Verletzungen, wie uns Said, ihr Sohn erzählte. Die IOF stritt jegliche Schuld ab, behauptete zunächst, in Notwehr gehandelt zu haben und dann, nie dort gewesen zu sein. Die Familie hat Anzeige erstattet und eine Internet-Seite zu dem tragischen Vorfall eingerichtet (www.remembershaden.org).
Auch der ehemalige Bürgermeister von Nablus, Besam Sheker, hatte uns viel zu erzählen. Er hat sich in den 70-er und 80-er Jahren mit seinem heldenhaften Widerstand gegen die israelische Bevormun-dung von Gemeindebelangen nicht nur in Palästina sondern auch international einen Namen gemacht, indem er allen Versuchen der israelischen Behörden, ihn zu entmachten oder ihn zu isolieren, trotzte. Weder Gefängnis noch Hausarrest oder Misshandlungen konnten ihn von seinem selbstlosen Einsatz für die Gemeinde von Nablus abbringen. 1976 schließlich verlor er bei einem Attentat extremistischer Siedler beide Beine und sitzt seitdem im Rollstuhl. Die damaligen Bürgermeister von Hebron und Ramallah wurden dabei getötet.
Auf dem Weg zu unserem Schlafplatz erfuhr einer unser Begleiter über Handy, dass sein Haus gerade vom israelischen Militär umstellt sei und er besser nicht nach Hause kommen solle. Nach einigen Stunden kam die Nachricht, dass sie wieder abgezogen waren. In der Nacht konnten auch wir ansatz-weise spüren, welche Ängste die BewohnerInnen der Stadt hier jede Nacht durchzustehen haben. Ge-genüber unserem Schlafplatz auf dem Berg war eine israelische Siedlung, die in der Nacht nur durch die gelben Lichter erkennbar ist. In der Ferne war Flugzeuggrollen zu vernehmen. Ab und zu brauste ein Auto mit höchster Geschwindigkeit durch die ausgestorbenen Straßen. Schließlich wurden Leucht-raketen abgeschossen, welche die ganze Gegend taghell erleuchteten. Sie schwebten an kleinen Fall-schirmen runter. Von Ferne waren Schüsse zu hören. Vor welchem Haus hielten die Patrouillen, wel-che Häuser hatten F16-Bomber gerade im Visier und wen suchten sie heute?
Am nächsten Morgen erfüllte sich die Luft mit ohrenbetäubendem Lärm. An unserem Haus donnerten zwei Merkava-Panzer vorbei. Kurze Zeit später kamen sie wieder zurück und blieben einige hundert Meter weiter stehen. Später erfuhren wir, dass in der Nacht im Flüchtlingslager Balata ein Palästinen-ser getötet wurde und zehn Merkava und zwanzig Militärjeeps in der Stadt unterwegs seien. Am Checkpoint war auch für uns diesmal kein Durchkommen. Unser Begleiter wurde verwarnt, weil er uns in seiner Ambulanz mitnahm, aber ihn ließ das kalt, denn diese Schikanen gehören hier zum paläs-tinensischen Alltag. Auch am nächsten Checkpoint gab es für uns kein Durchkommen, so dass wir schließlich auf einem staubigen Pfad unser Glück versuchten, zusammen mit einem Arzt, der im Krankenhaus von Tubas arbeitet. Als wir um die Ecke bogen, tauchte in einiger Entfernung ein einzel-ner Merkava-Panzer auf und eine Lautsprecherstimme forderte uns auf, nicht weiterzugehen. Ein Mit-glied unserer Delegation, amerikanischer Jude und des Hebräischen mächtig, konnte aber erfolgreich verhandeln, so dass wir mit unserem Gepäck weitergehen konnten. Unser palästinensischer Begleiter, der Arzt, musste zurückbleiben. Auf der anderen Seite trafen wir drei Lehrer von Nablus, die daran gehindert wurden, an diesem Tag zu unterrichten. Palästinenser sollten Nablus anscheinend weder verlassen noch betreten dürfen. Am gleichen Tag tötete die israelische Armee dort einen Journalisten.

Jenin – Fast jeden Tag kommen die israelischen Panzer

In Jenin, das wir auf ziemlich abenteuerlicher Piste endlich erreicht hatten, waren wir mit Omar Siete, verabredet, der uns dann in das Flüchtlingslager brachte, welches durch das Massaker der israelischen Armee an Ostern letzten Jahres traurige Berühmtheit in der internationalen Öffentlichkeit erlangt hatte. Omar koordiniert hier die Arbeit der Notfall-Komitees, in denen sich die BewohnerInnen organisiert haben. Auf dem Weg durch das Lager erzählte er uns von den schrecklichen Ereignissen. Im April 2002 waren hier 13`000 israelische Soldaten in das Flüchtlingslager eingefallen. 12`000 EinwohnerIn-nen beobachteten, wie sich etwa 150 bewaffnete palästinensische Kämpfer elf Tage gegen die Invasi-on wehrten. Die Soldaten zerstörten dabei fünfhundert der insgesamt 2500 Häuser. Wo einst enge Gassen waren, sahen wir große freie Flächen und Straßen und versuchten uns vorzustellen, wie die IOF hier mit Panzern, F 16-Bombern und riesigen Bulldozern ein Haus nach dem anderen ohne Rück-sicht auf deren BewohnerInnen dem Erdboden gleich gemacht hat. Keine einzige Familie ist von den Folgen der Invasion verschont geblieben: zerstörte Häuser, 54 Tote, ungezählte Verletzte, zahlreiche Verstümmelte, hunderte Verhaftete, von denen noch über zweihundert ohne Anklage im Gefängnis sitzen.
Dem Krankenhausdirektor im Lager war einen Tag vor der Invasion gedroht worden: "Wir erschießen jeden Arzt und Patienten, der in das Haus hineingeht oder herauskommt. Jeder Krankenwagen, der sich bewegt, wird in die Luft gejagt." Tagelang blieben die Toten unbestattet, Verletzte mussten sich in die benachbarte Stadt Tubas retten. Viertausend Menschen leben jetzt außerhalb des Lagers und wollen wieder zurück. Omar erzählte uns verbittert, wie viele Organisationen gekommen waren und Hilfe versprachen, um dann nichts mehr von sich hören zu lassen. "Es fehlt nach wie vor an medizini-schen Versorgungsmitteln aller Art, um die vielen Verletzten und Behinderten zu versorgen. Auch die Beschaffung von Nahrungsmitteln bereitet große Probleme. Das größte Problem ist der Mangel an Geld", so Omar, bevor wir die zwei Märtyrerfriedhöfe besuchten, auf denen nicht nur die Opfer des Massakers, sondern auch die bisherigen Toten der beiden Intifadas bestattet sind. "Seit über fünfzig Jahren wollen die Menschen hier nur eins: Ohne Angst in Frieden leben. Aber es ist uns nicht einen Tag vergönnt gewesen", beklagte Omar, der längst das Lächeln verlernt hat. Hier fühlt man sich von der Welt im Stich gelassen und baut ganz auf die eigene Kraft. Auch die Palästinensische Autonomie-behörde kümmert sich wenig um die katastrophale Situation. Der Widerstand ist jedoch nach wie vor ungebrochen, auch wenn die IOF fast jeden Tag das Lager heimsucht – immer mit Merkava-Panzern. Anders wagen sich die Soldaten nicht in das Lager. Mit dem Versprechen, die Situation bei uns be-kannt zu machen und unsere wenigen Möglichkeiten zu nutzen, verabschiedeten wir uns schließlich – tief ergriffen von dem Gehörten und Gesehenen. Nachdem es uns erneut nicht gelang, die Stadt über die zahlreichen Checkpoints zu verlassen, blieb uns wieder nichts als "die palästinensische Art" zu reisen. Mehrere Stunden später erreichten wir so über schlecht ausgebaute Straßen und Feldwege mit dem Taxi die "grüne Grenze" (Grenze von 1967), um das Westjordanland zu verlassen.

Zerstörte und nicht anerkannte palästinensische Dörfer in Israel
In Haifa trafen wir uns mit Iris Bah von Abna El Balaad (Söhne des Bodens) und Danni von der Kommunistischen Partei in Israel. Beide arbeiten auch bei Ta´ayush (arabisches Wort für: Zusammen leben) mit. Dieses Aktionsbündnis wurde nach Beginn der Zweiten Intifada von jüdischen und arabi-schen Menschen in Israel gegründet. Es hat kein festes politisches Programm, arbeitet nach dem Kon-sensprinzip und ist in erster Linie aktionsorientiert. So organisiert Ta´ayush neben Demonstrationen mit anderen Gruppen auch immer wieder Transporte von Lebensmitteln, Medikamenten und anderen notwendigen Dingen in die besetzten Gebiete oder hilft bei der Olivenernte zum Schutz gegen die Angriffe von israelischen Siedlern.
Abna ElBalaad ist ebenfalls eine gemischte Organisation, die vor allem in den 48-er Gebieten (also im Kernland Israel) arbeitet und sich seit 1969 für die Rechte der dort diskriminierten arabischen Minder-heit einsetzt und für das Rückkehrrecht der Flüchtlinge kämpft. Obwohl 1,2 Millionen Araber offiziell die israelische Staatsbürgerschaft besitzen, werden sie nicht nur auf der Straße sondern auch per Ge-setz systematisch diskriminiert und benachteiligt. Iris und ihr Mann Yoav sind Juden. Ihre Kinder gehen auf arabische Schulen, weil sie in den jüdischen immer wieder wegen ihren Kontakten zu Ara-bern beleidigt wurden.
Mit Iris fuhren wir nach El Rhabsia, eines von fünfhundert Dörfern, die während und nach der großen Vertreibung von 1948 zerstört wurden. Insgesamt 750`000 PalästinenserInnen wurden damals vertrie-ben. Der alte Dahoud Bader erzählte uns die traurige Geschichte seines Dorfes. In El Rhabsia hatten die israelischen Soldaten im Mai 1948 auf die gehisste weiße Fahne und freundliche Kaffeeangebote mit der Erschießung von elf BewohnerInnen reagiert. Die Übrigen wurden vertrieben. Als der höchste israelische Gerichtshof ihnen das Recht gab, zurückzukehren, zerstörte die israelische Armee zwischen 1955 und 1956 sämtliche Häuser. Lediglich die Moschee wurde verschont. 1995 begann die israeli-sche Armee, auch dieses Gebäude zu attackieren, um es anschließend einzuzäunen, nachdem die ehe-maligen DorfbewohnerInnen sich jede Woche dort zum Gebet versammelt hatten. Bei den Auseinan-dersetzungen wurden zahlreiche EinwohnerInnen verletzt und inhaftiert, aber die Menschen geben bis heute nicht auf. Nach wie vor findet das wöchentliche Gebet statt – inzwischen auf dem Platz hinter der Moschee, wie uns Dahoud berichtete. "Sie zerstören alles, nur unsere Moral können sie nicht zer-stören," fügte der alte Mann trotzig hinzu.
Eine andere Form mit den "unliebsamen arabischen MitbürgerInnen" umzugehen, die sich weigern ihr Dorf zu verlassen, konnten wir in einem von mehreren hundert nicht anerkannten Dörfern in Israel erleben. Diese existieren auf keiner israelischen Landkarte und werden von den israelischen Behörden ignoriert. Mit Iris fuhren wir zu einem solchen Dorf und besuchten dort eine Familie, die ohne Strom und fließendes Wasser mit zehn Kindern in einer Wellblechhütte haust. Ebenso wie im Westjordan-land werden auch hier immer wieder palästinensische Wohnhäuser zerstört, um die BewohnerInnen zu vertreiben. Und auch hier haben sich die Menschen dagegen organisiert, bauen die Häuser wieder auf und leisten mit Unterstützung von Abna ElBalaad und anderen Organisationen Widerstand.
"Die meisten Organisationen sind lediglich in den besetzten Gebieten aktiv, ohne die Apartheid inner-halb von Israel zu sehen," kritisierte Iris und fügte hinzu: "Solange sich dieser Staat als exklusiv jü-disch definiert, wird diese Diskriminierung sich fortsetzen und kein wirklicher Friede mit den Arabern möglich sein."

Achim
Delegationsteilnehmer aus Hamburg

Nähere Informationen: Palästina Solidaritätsbündnis Hamburg
Treffen: Jeden Dienstag um 19.30 Uhr im B5-Cafe –
Brigittenstr. 5 (St.Pauli) - e-mail: PalAK.HH@hamburg.de

Oder bei der Ortsgruppe von Solidarität International in Nürnberg. Die Ortsgruppe hat auch ein Spendenkonto eingerichtet, um vor Ort unbürokratisch und direkt dringende Hilfe und Unterstützung zu leisten:

Solidarität International
Konto 6100 800 584
Frankfurter Volksbank
BLZ: 501 900 00

Unter dem Stichwort "Jenin" werden Spenden für die "Emergency Committees im Flüchtlingslager Jenin gesammelt.
Unter dem Stichwort "HWC" können die Health Work Committees (Gesundheitskomitees) finanziell unterstützt werden.

Kontakt für weitere Infos dazu: Solidarität International
Ortsgruppe Nürnberg: A. Grünwaldt – Schanzenstr, 18 – 90478 Nürnberg – Tel: 49 98 66