Die Radikalisierung der Realität

11.06.2004

Beitrag zur notwendigen Wiederaufnahme der Debatte um die Form der palästinensischen Selbstbestimmung

Seit der zweiten Intifada, dem Aufstand des palästinensischen Volkes gegen die nach Jahren der Verhandlungen evidente zionistische Weigerung, einen gerechten Frieden durch die Schaffung eines souveränen palästinensischen Staat zu akzeptieren, eskaliert Israel mit unfassbarer Brutalität seine Kolonialpolitik. Auch die Regierung Bush hat in einer kürzlichen Erklärung offen die israelische Expansions- und Vernichtungspolitik gutgeheißen.
Beides ist kein fundamentaler Wandel in der Politik gegenüber den Palästinensern bzw. im ewig treuen Verhältnis der USA zu Israel, ihrem zentralen Verbündeten in der Region. Dennoch stellt diese Situation für die Palästinenser und die Solidaritätsbewegung die alte Frage nach der Form des palästinensischen Selbstbestimmungsrechtes und dem Verhältnis zum Staat Israel neu. Die Debatte soll von folgender Grundhypothese ausgehen: Die Radikalisierung der Politik des Unrechts gegen die Palästinenser drängt, um der Realität gerecht zu werden, zu einer radikalen Formulierung der palästinensischen Befreiung.
Prinzipielles und Historisches
Politischem Handeln und politischem Urteil liegen immer grundlegende Ziele und Prinzipien zugrunde. Ein Prinzip emanzipatorischer und demokratischer Politik ist das Recht auf Selbstbestimmung als Voraussetzung für Völkerverständigung und Gerechtigkeit in den Beziehungen zwischen Staaten. Aus diesem Kriterium, das der Solidaritätsbewegung mit Palästina zugrunde liegt, ist das Streben des palästinensischen Volkes in seiner Essenz fortschrittlich. Aus der historischen Fortschrittlichkeit des Kampfes der Palästinenser und der prinzipiellen Unterstützung all jener, die diesen Kampf führen, leitet sich jedoch nicht mit Notwendigkeit ab, dass auch die Form und Richtung dieses Kampfes bzw. der Politik seiner Akteure in jedem Moment der politischen Realität gerecht wird, die den Weg der Umsetzung des Rechts auf Selbstbestimmung vorgibt. Vielmehr war die Politik der palästinensischen Führung über Jahre auf ein Erreichen ihres historischen Rechts innerhalb und im Konsens mit einer imperialistischen Architektur gerichtet, die dem Selbstbestimmungsrecht widerspricht, und nicht auf eine diesem Gegensatz entsprechende antiimperialistische Formulierung der Selbstbestimmung.
Vom selben Prinzip der Gleichberechtigung der Völker ausgehend, ist der Zionismus als eine Form des Kolonialismus, der Eroberung und Unterwerfung anderer Völker, essenziell reaktionär und anti-emanzipatorisch. Es finden sich entsprechend in der Geschichte des israelischen Staates und des Zionismus politische Konstanten der Unterdrückung, unabhängig von deren mehr oder weniger radikalen Umsetzung durch die jeweilige politische Führung Israels. Das Bündnis mit den westlichen Kolonialmächten, seit der Staatsgründung vor allem mit den USA, als Kontrollinstanz in einer neuralgischen Region für die Dominanz des Westens, liegt der staatlichen Existenz und Raison d´àªtre Israels zugrunde. Dennoch hat der zionistische Staat als extrem ideologisches Projekt Eigeninteressen und eine Eigendynamik, die den USA nicht immer in ihren strategischen Vorstellungen zur Kontrolle des arabischen Raumes entsprechen. Der Zionismus hat so etwa die präventive Kriegs- und Eroberungspolitik vorexerziert und die amerikanischen Träume von einer prowestlichen Befriedung der Palästinenser erschwert, noch bevor mit Bush diese Politik zur internationalen Doktrin wurde. Die koloniale Expansion Israels ist eine weitere, selbst während der Verhandlungen mit der palästinensischen Führung nie beendete Konstante israelischer Politik. Diese Kolonialpolitik zeigt sich abwechselnd in der Form der Vertreibung und Liquidierung sowie der Separation der Palästinenser in autonome Apartheidgebiete und Ghettos, in denen unter militärischer Kontrolle Israels die Selbstkontrolle der Kolonisierten praktiziert wird. Schließlich sei noch die ausschließende Nationsdefinition genannt, die die reaktionäre Essenz des zionistischen Staates ausmacht. Nicht der Staatsbürger ist das Souverän, sondern das jüdische Volk, was notwendigerweise alle anderen, wie die in Israel lebenden Palästinenser, zu Menschen zweiter Klasse verurteilt.
Geschwächt, aber nicht zerstört
Ein Sieger, wie die USA im Kalten Krieg, ist kompromissbereit. Er lebt im Delirium, dass seine imperiale Herrschaft allen Glück und Zufriedenheit bringe, der Kampf unnötig geworden sei – und diejenigen, die ihn fortführen daher nur Fanatiker und Terroristen sein können – und die Normalisierung und Stabilisierung der imperialen Dominanz oberstes Ziel sei. Die mit Oslo eingeleitete Befriedungspolitik des Westens traf mit einer günstigen Konjunktur in Israel und Palästina selbst zusammen. Die Arbeiterpartei an der Regierung bevorzugte die (koloniale) Option der Separation gegenüber der Vertreibung und Liquidierung – was selbstverständlich nichts mit der Akzeptanz eines souveränen palästinensischen Staates zu tun hatte. Die palästinensische Führung war mit dem Niedergang der Befreiungsbewegungen und des "realen Sozialismus" sowie durch ihre Opposition gegen den US-Krieg im Irak auf der internationalen Bühne geschwächt. Als einzige Option schien der Verhandlungstisch zu bleiben, an den man sich aus der Position der Schwäche gezwungen sah und man verkaufte dankbar jedes scheinbare Zugeständnis dem eigenen Volk als siegreiche Etappe zum eigenen Staat.
Die gesamten 90er Jahre waren von dieser illusionären Hoffnung der palästinensischen Führung charakterisiert: Die zionistische Option der kolonialen Separation in Verbindung mit autonomer Selbstkontrolle der Palästinenser sei ein Schritt im Kampf um Selbstbestimmung, nicht eine intelligente Form der Fremdbestimmung. Die Kampfkraft der PLO wurde von der Verhandlungsschwäche und Verwaltungskorruption der Palästinensischen Nationalbehörde (PNA) abgelöst und die Spaltung der palästinensischen Bewegung war unvermeidlich. Der Ausbruch der zweiten Intifada zeigte jedoch eines deutlich: Trotz des (vorläufigen) Sieges über die palästinensische politische Führung, die in einem "Kompromiss" gelähmt wurde, der keiner war, wurde das nationale Streben des palästinensischen Volkes nach Selbstbestimmung nicht vernichtet. Es ist eben eine Illusion des westlichen Siegestaumels, dass seine Herrschaft die ganze Welt zu zufriedenen und gleichen Marktteilnehmern machen kann und jedes kollektive Ziel unnötig wird. Diese Illusion musste durch die Realität des neoimperialistischen Projekts, seiner Logik des Elends und der Entwürdigung, untergraben werden und das unerfüllte Emanzipationsstreben der Palästinenser nach nationaler Befreiung wieder auf den Weg des Kampfes führen.
Modernisierung und Regimewechsel
Die USA mussten also einsehen, dass die Befriedung der ehemaligen Führungsgruppe des palästinensischen Freiheitskampfes nicht ausreichte, um das tief verankerte Streben nach einer freien palästinensischen Nation im Volk auszulöschen. Da kein Imperium jedoch zur Selbstkritik und zum Rückzug bereit ist, war die amerikanische Anpassung der Linie ein Vorstoß, das Projekt der "Modernisierung und Demokratisierung" von ganz Westasien (des Nahen Ostens) zu realisieren. Nicht allein die politische Integration der Führung reiche aus, sondern es gehe um eine tiefgehende Transformation der arabischen Welt in politischer, wirtschaftlicher, ideologischer und kultureller Hinsicht, um eine Amerikanisierung der Araber. Dieser zweite Schritt nach der Neutralisierung der politischen Führung scheint in einem Panorama eskalierenden Konfliktes jedoch unmöglich, vor allem seit der Invasion und dem Widerstand im Irak. Zu sehr haben die USA und Israel die Auseinandersetzung zugespitzt, selbst ihre Ideologen konstatieren in oberflächlicher Beobachtung einen "Kampf der Kulturen", der einem Konsens des "American Way of Life" als Ende der Geschichte entgegensteht. Als zentrales Element der US-Strategie der Modernisierung bleibt letztlich nur mehr die imperialistische Essenz des "Regimewechsels" übrig. Im Zuge der Roadmap lancierten die USA die Notwendigkeit einer Reform bzw. Demokratisierung der PNA, da Arafat trotz der eisernen Ketten, die ihn an die unterwürfige Verhandlungsstrategie binden, nicht in der Lage und nicht bereit war, Grundelemente des nationalen palästinensischen Projekts wie das Rückkehrrecht aufzugeben. Die diktierte Reform der PNA mit Abu Mazen und Muhammad Dah…­lan als Zuständige für innere Sicherheit brachte – kurzfristig – eine Verhandlungsführung an die Spitze, die den amerikanischen Vorstellungen von Demokratie entsprach: eine Führung, die nicht dem souveränen Willen des eigenen Volkes verantwortlich ist, sondern dem Souverän USA. Das palästinensische Problem wurde und wird in der internationalen Arena auf ein "Sicherheitsproblem Israels" und ein "Terrorproblem der Palästinenser" reduziert. Dementsprechend sollte die reformierte Führung in erster Linie eine Entwaffnung und Niederschlagung der Intifada erreichen, den einzigen konkreten Schritt der Roadmap. Abu Mazens Versuch eines einseitigen Waffenstillstands der Palästinenser wurde jedoch von der zionistischen Eskalation, der Opposition der kämpfenden Organisationen und der Mehrheit des palästinensischen Volkes sowie der Zuspitzung des Konfliktes im Irak zunichte gemacht.
Der fortgesetzte Widerstand der Intifada und der bewaffnete Befreiungskampf im Irak haben die Hoffnung nach einer reibungslosen Implementierung des Projekts der Modernisierung begraben. Die USA sehen ihr Ziel der akzeptierten Dominanz scheitern und lassen einer militarisierten Politik des Massakers und der Besatzung freien Lauf. Dem entspricht Bushs Zustimmung zur Apartheidmauer genauso wie die Akzeptanz der Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren der palästinensischen Führer und politischen Kader (mehr als 200 führende Politiker verschiedener palästinensischer Gruppierungen wurden während der zweiten Intifada ermordet), der neuen Form des Regimewechsels.
Israel ist von Verhandlung und Separation zu einer neuen brutalen Eroberungs- und Vernichtungsoffensive übergegangen. Der "einseitige Rückzugsplan" von Sharon aus dem Gazastreifen – überkompensiert durch einen mit der Apartheidmauer begonnenen und auszuweitenden Landraub weiter Gebiete des Westjordanlandes – zeigt mit Rafah vor den Augen der Welt seinen Sinn: die Verwandlung von Gaza in ein Lager, in dem die Menschen langsam sterben sollen. Einige "Außenposten", kleine Siedlungen, die strategisch unbedeutend sind, sollen geräumt werden, um die militärisch wichtigen Siedlungen zu stärken. Und um alles abzurunden, soll das Ghetto Gaza mit Hilfe von Experten aus den USA, Großbritannien, Ägypten und Jordanien überwacht werden.
Eine notwendige Diskussion
Verhandlung und Liquidierung, Autonomie und Vertreibung, Oslo und "einseitiger Rückzug". Die Konstante bleibt, unabhängig von der in Europa mehr oder weniger goutierten Form, die Verweigerung des palästinensischen Selbstbestimmungsrechtes. Es ist diese Realität, die die Debatte um die Möglichkeit der Zweistaatenlösung und ihrer Alternative, des einheitlichen Staates Palästina auf seinem ganzen historischem Territorium, erzwingt, mehr als ideologische Prinzipien, Wünsche oder Hoffnungen. Die Chancen auf eine Zweistaatenlösung standen nie besser als bei den Osloer Friedensverhandlungen, aber es ging nie um zwei Staaten, sondern um einen Staat Israel und eine dem Moment angepasste Form der Beherrschung der Palästinenser durch Selbstkontrolle und eingeschränkte Souveränität. Die Zeiten der Befriedungsverhandlungen sind nach 15 Jahren imperialer Globalisierung vorbei. Der Imperialismus hat sich normalisiert und zu der einem Imperium entsprechenden Politik des globalen, präventiven und permanenten Krieges gefunden. Die Politik von Bush ist weniger radikal oder fanatisch, als vielmehr den Gegebenheiten einer durch soziale und nationale Unterdrückung geprägten, konfliktgeladenen Welt angepasst. Das Problem liegt in der palästinensischen Führung und ihrer widersprüchlichen Rolle. Arafat ist nach wie vor eine Symbolfigur des palästinensischen Widerstands und ein Hindernis für die israelische Politik, doch seine politische Existenz hängt an einer unmöglich gewordenen Lösung, denn der Schein von Oslo ist nach mehr als einem Jahrzehnt verschwunden und das wahre Ziel ist ganz offensichtlich geworden. Doch dieses Ziel – die Selbstaufgabe der Palästinenser als Volk mit einem Recht auf Selbstbestimmung – ist für die Mehrheit inakzeptabel.
Wenn also das Prinzip der palästinensischen Selbstbestimmung anerkannt wird, scheint heute nur seine antiimperialistische Umsetzung einen Hauch von Realismus bewahrt zu haben, ein einheitlicher Staat Palästina auf seinem historischen Territorium und eine Überwindung des kolonialen Projekts Israel. Dass eine solche Politik radikaler Emanzipation ein friedliches Zusammenleben der Völker und Religionen in einem gemeinsamen Staat der Freiheit und Gleichheit anstrebt, muss wohl nur gegenüber den antiarabischen Israelpropagandisten und ihrem rassistischen Bild von arabisch-moslemischen Barbaren betont werden. Wieweit und in welcher konkreten Form dieser Wunsch Realität wird, entscheidet einzig und alleine der Kampf selbst und die Fronten in diesem Konflikt. Er alleine schafft die Grundlagen für die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Verständigung zwischen den um ihre Freiheit kämpfenden Unterdrückten und den heute mehrheitlich an den Unterdrückerstaat gebundenen Israelis. Die einzige Sicherheit ist, dass nur durch einen mächtigen palästinensischen Widerstand – durch die Einheit der Organisationen der Intifada und das Zusammentreffen mit dem arabischen Widerstand gegen den Imperialismus – Selbstbestimmung für Palästina denkbar bleibt.

Gernot Bodner

Gernot Bodner ist außenpolitischer Redakteur der Zeitschrift Bruchlinien.