Hamas versus Salafiten

05.09.2009

Vorabdruck "Intifada" Nr. 29, Herbst 2009: Ein Meinungsaustausch von Mohamed Aburous und Wilhelm Langthaler

Das Labyrinth von Gaza: Hamas gegen die Al-Qaida, Alle gegen Hamas

Wie bereits erwähnt
, verbot die Hamas den Fatah-Delegierten aus Gaza die Ausreise zum Kongress in Bethlehem. Hamas hatte im Gegenzug für die Ausreiseerlaubnis die Freilassung ihrer eintausend in den Gefängnissen der PNA inhaftierten Aktivisten gefordert. Dies nützte die Fatah umgehend aus, um etwa die Gegner von Mohammad Dahlan, die in Gaza geblieben waren, ebenfalls vom dem Kongress auszuschließen und dagegen Abbas-treue Elemente als Delegierte zu ernennen. Infolge des Kongresses kam es zu Massenaustritten im Fatah-Kader in Gaza. Das Ausreiseverbot erwies sich als ein Dienst an Abbas und Dahlan und wurde von Vielen als Repressionsmaßnahme betrachtet.

Egal wie sehr sich in Fatah eine Opposition gegen Abbas und Dahlan auflehnen sollte, werden solche Maßnahmen jede Vertrauensbasis zwischen Hamas und den anderen Organisationen zerstören und die Chancen auf ein Alternativprojekt zur PNA vernichten. Aber was will die Hamas?

Am 14. August rief ein Anführer der salafitischen (1) Gruppe "Dschund Allah" (Die Soldaten Gottes) in Rafah ein "islamisches Emirat" in Gaza aus. Binnen 24 Stunden stürmten die "Exekutiv-"Truppen der Hamas die "Iben Taymiyyah" Moschee, in der sich die Soldaten Gottes verschanzt hatten, und töteten den Anführer sowie einige seiner Anhänger. Bei den Gefechten starben 24 Personen, 150 wurden verletzt. Einer der Toten hatte eine wichtige Rolle bei der Gefangennahme des israelischen Soldaten Gilad Shalit gespielt. Die Gruppe "Die Soldaten Gottes" galt früher als Koordinationspartner der Hamas. Die Behauptungen, es handle sich um ausländische Kämpfer aus dem Umfeld der Al-Qaida, sind vor diesem Hintergrund nicht haltbar. Unter den Toten war auch ein Neffe von Moussa Abu-Marzouq, einem Politbüromitglied der Hamas.

Dieses Ereignis ist von äußerster Tragweite, ist es doch das erste Mal seit der Machtübernahme in Gaza 2007, dass die Hamas-"Exekutive" Palästinenser gezielt tötet. Es handelt sich auch hier nicht um die traditionellen Rivalen der Hamas aus dem Fatah-Milieu oder um Kollaborateure, sondern um islamistische Kämpfer. Die Stellungnahme der Hamas zum Sturm auf die Moschee ähnelt in ihrer Terminologie jener von Abbas im Westjordanland: „Extremisten, illegale Waffen, Zügellosigkeit, irregeführte Takfir-Sekten, Durchsetzung des Gesetzes…". Dies erklärt die heftige Kritik seitens des Islamischen Jihads und der PFLP am brutalen Vorgehen der Hamas gegen die Salafiten.

Hamas wollte offensichtlich ein Exempel statuieren um abzuschrecken. Die Gruppe hatte nämlich die sofortige Einführung der Sharia und die „Wiederaufnahme des Jihads gegen Israel“ gefordert, was – ironischerweise – den ursprünglichen Forderungen der Hamas ähnelt. Der Konflikt mit den diversen islamistischen Gruppen fing mit dem Versuch der Hamas-Regierung an, die Moscheen unter die Kontrolle des Religionsministeriums zu bringen (mit dem selben Argument hat die PNA Hamas aus den Moscheen des Westjordanlands verdrängt).

Zuvor hatten die Salafiten Internetcafes gesprengt, eine Hochzeit angegriffen, eine unverschleierte Frau mit Säure angegriffen und die Leute am Strand belästigt. Die Behörde der Hamas hatte bislang nichts gegen derartige Aktionen unternommen, solange sie eine langsame, eher schleichende Islamisierung des Gazastreifens bedeuteten. Seit dem Ende des Krieges im Januar, und um den Waffenstillstand einzuhalten, beschäftigt Hamas ihre Kader mit der internen Kontrolle über Gaza. Fern von medialer Konfrontation wird ein sanfter Kulturkrieg geführt. Wird eine Islamisierungsmaßnahme medial aufgegriffen und kritisiert, so distanziert sich die Regierung und behauptet, es würde sich um Einzelfälle handeln. Ein deutliches Beispiel dafür ist etwa die Einführung der Kopftuchpflicht in öffentlichen Gebäuden und Mädchenschulen. Heftige Proteste von säkularen Kräften und nichtreligiösen Bürgern wurden zum gefundenen Fressen für Ramallahs Medien. Das Bildungsministerium sprach von Einzelhandlungen lokaler Direktoren, ergriff jedoch keine Maßnahmen, um diese rückgängig zu machen.

Jeder Ungehorsam wird als Kollaboration und als Teilnahme am Dayton-Projekt (2) unterdrückt. So wurden nicht nur Aktivisten des Islamischen Jihads verhaftet, die sich nicht an den Waffenstillstand halten wollten, sondern auch Aktivisten der nicht bewaffneten "Islamischen Befreiungspartei", die nur ein Flugblatt in Gaza verteilten, in dem die pragmatische Politik der Hamas mit jener der Fatah verglichen wird. Das Flugblatt bezeichnet die Regierung der Hamas in Gaza als „Repressionsregime“ und vergleicht sie mit jener von Israel und der PNA im Westjordanland. Tatsächlich hält die Hamas rund hundert Fatah-Aktivisten im Gazastreifen fest. Demgegenüber sitzen jedoch mehr als tausend Aktivisten der Hamas in den PNA-Gefängnissen im Westjordanland, meist unerwähnt von den Medien.

Hamas hat es verabsäumt, aus ihrem politischen Sieg nach dem Krieg im Januar politisches Kapital zu schlagen und den Moment zu nützen. Genau wie nach der Sprengung der ägyptischen Grenze durch die ausgehungerten Massen in Gaza ein Jahr zuvor, wurde die politische Dynamik auch diesmal in den Sand gesetzt.

Anstatt als Trägerin des Widerstandsprojektes an der Bildung einer politischen Front mit den Widerstandskräften zu arbeiten und ein Alternativprojekt zur Kollaborationsbehörde in Ramallah zu bilden, bemüht sich Hamas, selbst die PNA zu sein bzw. diese mit der Fatah zu teilen. Auf der Suche nach politischer Anerkennung ist die politische Führung bereit, die Zweistaatenlösung zu akzeptieren und schlussendlich für Israel den Grenzenpolizisten zu spielen. Die Blockade und die miserable Situation in Gaza zwingt sie zu Verhandlungen mit Fatah unter der Obhut des ägyptischen Geheimdienstes. Die bedingungslose und (mit der jetzigen rechtsradikalen israelischen Regierung sinnlose) Einhaltung eines einseitigen Waffenstillstands wirkt nicht nur negativ auf die Beziehung zu den anderen und eigenen Kampforganisationen, sondern auch auf die Beziehung mit der eigenen Basis. Daher ist es kein Wunder, dass viele der Salafiten ehemalige Kämpfer der Hamas-nahen Qassam-Brigaden sind.

Karikaturistisch dekadent in Bethlehem und Ramallah, surrealistisch in Gaza und politisch gelähmt überall: die palästinensische Bewegung ist heute so orientierungslos wie nie zuvor.
Palästina selbst kann derweil warten.

Mohammad Aburous
27. August 2009

(1) Als „salafitisch“ bezeichnen sich die Anhänger bestimmter moderner Strömungen des politischen Islam, u.a. die Al Qaida. Sie kritisieren die Moslemische Bruderschaft und die Hamas wegen ihres politischen Pragmatismus in Bezug auf die Einführung der Sharia und die Konfrontation mit den „Ungläubigen“.

(2) Der Dayton-Plan vom Mai 2007, benannt nach dem US-General K. Dayton, der als Sicherheitskoordinator zwischen der PNA und Israel fungiert, beinhaltet die militärische und wirtschaftliche Stärkung der PNA und Fatah unter Mahmoud Abbas, um die gewählte Hamas-Regierung zu schwächen und langfristig zu stürzen.

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Umstrittener Waffenstillstand

Im Sommer eskalierte der Konflikt zwischen der in Gaza herrschenden Hamas und den militanten Salafiten erstmals in einer Form, die auch vom Westen wahrgenommen wurde. Doch wie lässt sich die blutige Auseinandersetzung erklären? Radikal-Islamisten gegen – ja wen nun eigentlich? – vielleicht Radikal-Radikal-Islamisten, um in der Methodik der westlichen Medien zu bleiben, die „radikalislamisch“ als Prädikat der moralischen Verwerflichkeit benutzen.

Tatsächlich, hinsichtlich des Kulturkonservativismus und dessen Erhebung zur Richtschnur islamischen Verhaltens unterscheiden sich Hamas und die Salafiten nur graduell, genauso hinsichtlich der Härte der Durchsetzung. Einen derartig blutigen Konflikt erklärt das also kaum.

M.E. steht dahinter eine rein politische Frage, nämlich der einseitige Waffenstillstand mit Israel. Rufen wir uns die Hintergründe der Waffenruhe kurz ins Gedächtnis: Gaza bleibt mit einem Embargo belegt, dass kaum das einfache Überlegen erlaubt. Es handelt sich dabei um die größte moralische Wunde im Fleisch des Westens, eine Art Ursünde, die zeigt wie verlogen das gesamte Gerede von Demokratie, Menschenrechten, Aufklärung etc. ist. Trotzdem wird die Aushungerung auf Biegen und Brechen von der „westlichen Wertegemeinschaft“ unterstützt. Wer ausschert ist Antisemit. Punkt! Israel versuchte mehrfach die demokratisch legitimierte Hamas-Regierung mit brutaler Gewalt zu beseitigen, zuletzt im Januar 2009. Hamas gelang es, sich als David gegen Goliath zu verteidigen – dank eines unbesiegbaren Widerstandsgeists im einfachen Volk. Doch Widerstand gegen die ganze „internationale Gemeinschaft“ kann nicht bedeuten, den Krieg permanent zu führen. (Ein Krieg, der diesen Namen kaum verdient, sondern angesichts der extremen Waffenungleichheit korrekt eigentlich nur als Massaker bezeichnet werden kann.) Des Waffenstillstands bedarf es zum einfachen Überleben. Mag sein, einige Kämpfer können sich opfern, aber nicht ein ganzes Volk. Eine politische Führung, die den Konsens der Massen behalten will, muss das bei Strafe des Untergangs in Rechnung stellen. Das heißt nicht, dass militärische Aktionen nicht möglich seien, aber diese müssen ganz besondere politische Umstände vorfinden, am besten aus der Verteidigung heraus. Der Waffenstillstand ist daher eine absolute Notwendigkeit, alles andere ist Selbstmord von Abenteurern. Die Einseitigkeit der Waffenruhe ändert daran nichts, denn es bleibt nun einmal das Vorrecht des Stärkeren den Schwächeren zu provozieren. Dass man dann und wann gegen die ständige Demütigung seine Würde wieder herstellen will, ist klar und verständlich. Es wäre aber fatal, dass in eine Offensivstrategie münden zu lassen, wie es die militanten Salafiten propagieren. Die totale Niederlage wäre unvermeidlich.

Aus dieser Sicht ist die Niederschlagung von bewaffneten Versuchen den Waffenstillstand zu brechen legitim, insofern er letztlich eine Mehrheit repräsentiert.

Man kann hier durchaus ein vielbemühtes (und oft missbrauchtes) Beispiel aus der kommunistischen Geschichte als Analogie heranziehen. Als Lenin nach der Revolution angesichts der Intervention und des Bürgerkriegs 1918 mit Deutschland Frieden schloss, wurde das innerhalb der Kommunistischen Partei wütend als Kapitulation bekämpft. Lenin setzte den Waffenstillstand (mehr war es nicht, denn in keiner Weise wurde der imperialistische Gegner hofiert oder sonst wie legitimiert) dennoch durch und rettete damit den neuen Staat, der am Zusammenbruch dahinschrammte.

Die Vorwürfe an die Hamas seitens der Salafiten sind letztlich ähnlich geartet. Es wird von Kapitulation und Kollaboration mit Israel gesprochen. So wie unter den Bolschewiki gibt es auch unter der Hamas eine große Bandbreite an Positionen, einschließlich solcher, die die Zweistaatenlösung akzeptieren und Israel anerkennen wollen. Es handelt sich auch um ein Doppelspiel, je nachdem für wessen Konsum eine Aussage getätigt wird – auch das ist bis zu einem gewissen Grad eine legitime Technik der Macht, die man aus aller Welt kennt. Zudem kommt die Hamas von den Moslembrüdern, deren Quintessenz die islamische Kulturreform und ein islamischer Kapitalismus als Ersatz für die antikoloniale Revolution war. (Der Vorwurf des islamischen Kapitalismus wird empört zurückgewiesen, doch was ist das, wenn man die Eigentumsverhältnisse im Wesentlichen unangetastet lassen will? Die Moslembrüder haben sich in Ägypten, ihrem Ursprungsland, fast in eine Kaste im Rahmen der kapitalistischen Arbeitsteilung verwandelt: sie bestehen vorwiegend aus Ärzten, Ingenieuren, Professoren, etc.) Doch im Unterschied zu ihren Brüdern auf der anderen Seite des Suezkanals ist die Hamas zur Plattform des Volkswiderstands geworden, nämlich genau ab jenem Zeitpunkt an dem die PLO den historischen Kompromiss von Oslo eingegangen ist. Die Fatah wurde von den Zionisten nach Strich und Faden betrogen (oder ließ sich betrügen), hat alles gegeben und im Gegenzug nichts bekommen.

Unter den gegebenen historischen Bedingungen des zionistischen Extremismus an der Macht und des permanenten Krieges der USA gegen den Widerstand (an dem Obama auch nichts ändern wird, selbst wenn er den Israelis zum Schein ein Ende des Siedlungsbaus abringen mag), kann und will Hamas nicht kapitulieren. Es ist kein Platz für eine zweite Fatah. Die Abwanderung ihrer Basis zu den Salafiten ist sicher kein Indikator einer Tendenz zur Kapitulation unter den Massen. Der anhaltende Volkswiderstand unter der Fahne des Islam bleibt das Grundcharakteristikum der palästinensischen und etwas allgemeiner der nahöstlichen Gesellschaften. Hamas vertritt diesen oder sie ist nicht!

Der Fehler liegt also nicht am Waffenstillstand der die Gefahr der Kapitulation heraufbeschwöre. Aus einer antiimperialistischen Sicht kann an der Unterstützung für Hamas als Führung des Widerstands nicht gerüttelt werden, doch zwei Kritikpunkte drängen sich auf, geschöpft aus den Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts der sozialen Revolution.

So notwendig die Unterdrückung militärischer Rebellionen sein mag, so sehr wird sich die politische Repression gegen die Mitkonkurrenten im Widerstand als Bumerang erweisen. Entweder legitimiert sie ihre Rebellion oder erweist sich als „self fulfilling prophecy“, die die Konkurrenten zum Feind treibt (siehe die linkssäkulare Bewegung im Iran ). In jedem Fall bedeutet dieses Herangehen einen Verlust an Hegemonie, die im Widerstand erworben wurde. Angezeigt wäre der Versuch eine möglichst breite politische Front des Widerstands einschließlich der nichtislamischen Kräfte zu bilden, die der Fatah und der PNA jegliche Legitimität entziehen würde. Eine solche Front könnte zur neuen PLO im besten Sinn werden.

Zweitens ist da der Zug zum Kulturkonservativismus. Dieser entspricht sicher einem Trend in der Gesellschaft, wo Widerstand mit Islam identifiziert wird und dieser wiederum sich vor allem in der Einhaltung kulturkonservativer Regeln manifestiert. Doch Palästina ist nicht Afghanistan. Es gibt einen signifikanten säkularen Sektor, auch im Widerstand. Diesen zu ignorieren, an den Rand zu drängen oder sogar zu unterdrücken, kann auf lange Sicht dem Widerstand nur schaden. Auf der anderen Seite muss der linke Widerstand aber die islamische Hegemonie für die laufende Periode als Tatsache akzeptieren und beim notwendigen Bündnis in Rechnung stellen.

Wilhelm Langthaler
September 2009