Kopftuchverbote in der Türkei und Europa: Cui bono?

24.09.2004

Interview mit Hülya Sekerci, Özgür Der

Seit dem siegreichen Kampf der Hizbullah gegen die israelische Besatzung im Süd-Libanon und dem Beginn der al-Aqsa-Intifada 2001 zeigt sich, dass ein Großteil des Kampfes um nationale Selbstbestimmung und gegen die israelische Besatzung unter der Fahne des Islam geführt wird. Vor allem ist dies ein Ausdruck der Veränderungen seit 1989 und des "Weltkriegs" der USA gegen die Länder der Dritten Welt, mit dem die führende imperialistische Nation die Welt ihren ökonomischen Interessen unterzuordnen versucht. Dabei ist der politische Islam für große Teile der Menschen im Mittleren Osten ein Mittel ihrem Widerstand einen Ausdruck zu geben. Der Islam ist hierbei ein Versuch sich der imperialistische Assimilierung zu widersetzen und eine eigene Alternative gegen die imperialistische Ausbeutung und Unterdrückung zu formulieren. Doch der politische Islam ist kein Phänomen, das sich alleine auf eine "Re-Islamisierung" stützt, sondern tritt vermehrt als eine Bewegung in Erscheinung, die mit eigenen politischen Programmen auftritt. Während vor 1989 der Islam vor allem eine Bewegung der traditionellen feudalen Klassen im Mittleren Osten war, ist dieser heute zum großen Teil eine Bewegung, die sich auf die eigentlichen Prinzipien des Islam, wie Gerechtigkeit und Menschlichkeit, bezieht und diese traditionellen Strukturen angreift. War das Kopftuch in der Vergangenheit eher ein Zeichen der Unterdrückung der Frau in den zum großen Teil noch feudalistischen Familienstrukturen, ist es heute ein Symbol der sich befreienden Frau gegen die westlichen Assimilierungsversuche.
In der aktuellen Auseinandersetzung mit diesen Bewegungen finden sich viele der einstmals unorthodoxen Linken auf der Seite der westlichen Hetze gegen "den Islam" wieder. In der allgemeinen "Babarisierung" des neuen Hauptfeindes der amerikanischen Demokratie des Geldes und der Konzerne, geht ein großer Teil der Linken in Europa mit einem säkularen Fetischismus aus den letzten Jahrhunderten hausieren, der letztendlich in das gleiche Horn bläst wie die US-amerikanischen Kreuzritter. Dabei werden die Unterschiede der einzelnen Bewegungen negiert und die Bewegungen ohne ihren sozialen und politischen Inhalt betrachtet. Vor dem Hintergrund des breiten Widerstandes im Mittleren Osten gegen die amerikanische und israelische Besatzung und der Zerschlagung der sozialen und demokratischen Rechte in Europa ist eine neue Annäherung der fortschrittlichen Linken in Bezug auf diese neuen Bewegungen nötig. Hierbei geht weniger darum als Linke mit dem erhobenen Zeigefinger aufzutreten, sondern in eine solidarische Auseinandersetzung zu treten. Ziel dabei ist es die Grundlagen für eine breite antiimperialistische Front zu schaffen. Das folgende Interview mit der Vorsitzenden von Özgür Der, Hülya Sekerci, ist im Zusammenhang unserer Zusammenarbeit mit der islamischen Organisation HDR (Organisation for Human Dignity and Rights) während unserer Aktivitäten gegen den imperialistischen Krieg gegen Afghanistan und gegen den Irak entstanden.
Wie kam es zur Gründung von Özgür Der?
Die Gründung erfolgte 1999, in der "Periode des 28. Februar". Diese Phase war gekennzeichnet durch großangelegte gesetzliche und militärische Repressionen gegen Muslime. Frauen mit Kopftuch demonstrierten für ihr Recht auf ein Universitätsstudium. Die türkische Polizei setzte Knüppel gegen die Demonstrierenden ein und verhängte Arreststrafen. Im weiteren Verlauf wurde das Kopftuchverbot sogar noch ausgeweitet, z. B. auf Beamtinnen. In dieser Phase gründeten wir Özgür Der. Wir koordinieren Aktionen gegen das Kopftuchverbot und kämpfen für das Recht auf freie Meinungsäußerung. Ein weiteres Thema ist das türkische Gefängnissystem, insbesondere die Isolationshaft in den F-Typ-Gefängnissen.
Welche Bedeutung hat für Sie das Kopftuch?
Das Kopftuch ist Teil unserer Identität – keiner geschlechtlichen, sondern einer menschlichen Identität. Koran und Freiheit gehören für uns zusammen. Es stimmt nicht, dass das Kopftuch die Frau unterdrückt. Das Gegenteil ist der Fall: Frauen werden gezwungen, das Kopftuch abzunehmen. Frau kann in der Türkei weder an Grundschulen noch an Mittelschulen noch an Universitäten mit Kopftuch studieren oder lehren.
Wie bewerten Sie die Kopftuch-Debatte in den europäischen Ländern?
Die durch den 11. September ausgelösten "Präventivmaßnahmen" üben starken Druck auf Muslime in der ganzen Welt aus. In Frankreich ist das Kopftuch bereits verboten, in Deutschland schon in einigen Bundesländern. Ich denke, dass der Westen die Situation in der Türkei ausnutzt, um zu argumentieren, dass das Kopftuch selbst in einem Land verboten ist, in dem ein so hoher Anteil an Muslimen lebt. Auch das Urteil des Europäischen Gerichtshofes führt diese Argumente an. Wir erleben einen globalisierten Angriff auf die islamische Identität. Anschläge gegen Synagogen in Istanbul sind übrigens ein guter Nährboden für diesen Antiislamismus.
Sie erwähnten die F-Typ-Gefängnisse. Gibt es eine Zusammenarbeit mit der Linken?
Uns eint der Widerstand gegen den Imperialismus. Konservative Schichten hatten uns aufgefordert, nicht mit den linken "Staatsfeinden" zu kooperieren. Von diesen konservativen und rechten Schichten haben wir uns distanziert. Die Linke war anfangs darüber verblüfft, dass wir gemeinsam mit ihr auf der Straße Slogans gegen die AKP riefen. Mittlerweile gibt es Kontakte zu mehreren linken Zeitungen und Organisationen. Es gibt Beispiele einer guten Zusammenarbeit, z. B. anlässlich des Intifada-Jahrestages.
Wie bewerten Sie die derzeitige Situation im Nahen und Mittleren Osten? Welche Rolle spielt die Türkei?
Der US-Krieg gegen Afghanistan und die Besetzung des Irak kritisieren wir auf das Schärfste, insbesondere die Rolle der Muslime in der irakischen Marionettenregierung. Solange sich noch ein amerikanischer Soldat im Irak befindet, kann nicht von einer souveränen Regierung gesprochen werden. Die Gegenwehr der Irakerinnen und Iraker ist legitimer Widerstand und kein Terror. Zur Rolle der Türkei: Die USA wollen den Nahen Osten in ihrem Interesse neu ordnen und die Türkei ist hierfür einer ihrer wichtigsten Bündnispartner. Dass in der Türkei der Laizismus als Waffe gegen die islamische Prägung des Landes eingesetzt wird, dient imperialistischen Interessen: Das Potential des Islam, sich als Alternative zur globalen Unterdrückung anzubieten, soll erstickt werden.
Wie ist ihr Verhältnis zur Antiglobalisierungsbewegung?
Die Unterdrückung globalisiert sich und somit muss sich auch der Widerstand globalisieren. Wir beteiligen uns am Weltsozialforum und betrachten den Dialog mit GlobalisierungsgegnerInnen als extrem wichtig.
Hülya Sekerci ist Vorsitzende von Özgür Der (Verein für freie Meinungs- und Bildungsrechte, Türkei).
Das Interview führte Dimitri Tsalos, Aktivist bei Initiativ e. V. Duisburg, im Juli 2004. In Duisburg besteht eine rege Zusammenarbeit zwischen Özgür Der und Initiativ e. V.