Demokratische Revolution in Nahost

30.01.2011
Neokoloniale Ordnung erschüttert
Wilhelm Langthaler
In Windeseile sprang der tunesische Funken über – nach Algerien, Jordanien, Jemen und vor allem nach Ägypten. Das Land am Nil stellt in jeder Hinsicht das Zentrum der arabischen Welt dar. Es ist treuer Verbündeter der USA und Herz der neokolonialen Ordnung der Region. Symbolisch wird das durch seine Beteiligung am Hungerembargo gegen Gaza veranschaulicht. Stürzt das ägyptische Volk seinen Pharao, so gilt das als Fanal für den Beginn der demokratischen Revolution in der gesamten Region.
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Der Nahe Osten stellt sich wiederholt als neuralgischer Punkt der imperialistischen Weltordnung dar. Soll sich an dieser verdammt ungerechten Ordnung etwas ändern, so muss das über die Region gehen oder diese zumindest berühren. Nicht nur aus diesem Grund haben wir uns in den letzten zwei Jahrzehnten auf die Unterstützung des Widerstands in der Region konzentriert.

Unsere Generalthese lautete und lautet folgendermaßen: Die unhaltbare Situation der Verarmung und Unterwerfung durch den Westen führt unweigerlich zum Widerstand. Nur Volksaufstände durch die breiten Massen können die prowestlichen Regime beseitigen. Doch die westliche militärische Intervention ist unabwendbar und findet bereits permanent statt. Aufstand, bewaffneter Widerstand müssen in einen Befreiungskrieg, getragen vom einfachen Volk, münden. Die Forderungen nach politischer Freiheit, sozialer Gerechtigkeit und Entwicklung sowie nationaler Unabhängigkeit fließen zusammen. Dabei ist die Reihenfolge nicht vorgegeben.

In diesem Kampf haben sich schon einige Akte ereignet, wie in Palästina, Irak oder Libanon. Doch musste eine gewisse politische Blockade konstatiert werden. Der Widerstand hatte eine islamische Kolorierung angenommen, oft je radikaler desto stärker. (Das mag für viele als banale Feststellung gelten, doch zuvor war es umgekehrt gewesen, je islamischer desto prowestlicher.) Der Islamismus sollte sich bald als Schranke erweisen. Zu stark war die konfessionelle Spaltung (siehe Irak) und die soziokulturelle Rigidität, die den Widerstand hegemonieunfähig machte. Gänzlich fehlte die Ausstrahlung auf die nichtislamische Welt und insbesondere Europa, das sich mit der Islamophobie gegen den antiimperialistischen Widerstand ideologisch erfolgreich wappnet.

Die gegenwärtigen demokratischen Revolutionen bestätigt diese langjährige Arbeitshypothesen. (Ja, sie bringt sogar den Begriff der Revolution wieder auf die Tagesordnung und nicht in der vom Imperialismus pervertierten farbigen Form wie in Serbien, der Ukraine, Georgien usw.) Die gegenwärtigen Aufstände scheinen auch in gewisser Weise einen Ansatz zur Überwindung der Schwächen des islamischen Kulturalismus zu bieten, weil sie eine überkulturell verständliche, nicht spezifisch islamische Sprache sprechen: die Forderungen nach Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit scheint fast klassisch und hat jedenfalls schon so manche Revolution angetrieben.

Tunesien: nicht Moschee, sondern Gewerkschaft

Der Umsturz in Tunis kam unerwartet. Wir hatten die Tendenz dazu in der Region zwar vielmals proklamiert, doch man wurde nur müde belächelt. Man wagte gar nicht mehr an die Revolution zu glauben, sondern verschob sie in eine unbestimmte, durch eine Zeitmauer von der Gegenwart getrennte Zukunft. Daher war die Flucht Ben Alis auch eine geistige Befreiung für die Revolutionäre in Europa.

Das besondere an dieser – ersten – Etappe der Revolution ist, dass ihre Forderungen sich nicht wie gewohnt in der islamischen Symbolik versteckt darstellen. So wie in der Folge auch in Ägypten geht es um politische Freiheit und soziale Gerechtigkeit. Die nationale Unabhängigkeit gegen den Neokolonialismus, in diesem Fall gegen die französischen, schwingt immer mit, wenn auch nicht so explizit.

Obwohl die islamische Bewegung am meisten unter der (säkularen) Diktatur gelitten hat, ging die Revolte nicht von den Moscheen aus, sondern – ein Novum für die arabische Welt – von den Gewerkschaften. Diese stellen das aktive politische Zentrum der Bewegung dar, das sich auch am klarsten gegen den Versuch des alten Regimes stellte sich möglichst zu geringen Kosten zu recyceln. Auch die Nachbarschaftskomitees, die gegen die marodierenden Präsidentengarden und einfache Plünderer und Kriminelle, die das Machtvakuum zu nutzen versuchen, aufgestellt wurden, sind mit den Gewerkschaften verbunden.

Doch der Kampf um die Regierung und den Charakter des neuen Regimes ist völlig offen. Die Bewegung hat indes eine ganz entscheidende Forderung aufgestellt, nämlich nicht nur nach einer neuen Verfassung und einer neuen Republik, sondern auch nach einer konstituierenden Nationalversammlung. Nur so kann wirklich von unten bestimmt werden. Andernfalls besteht die Gefahr, dass sich die alten Eliten in neuer Form an die Spitze setzen.

Dazu brauchen sie unverbrauchte politische Kräfte. Das was von Bourgiba verbleibt, wäre doch eine allzu dünne Suppe. Eine mögliche Variante ist die Beteiligung der islamischen Bewegung Ennahda. Ihr Führer Rachid Ghanuchi hat zwar für sich persönlich abgewinkt, doch das gilt nicht für die Partei als solche. Sie versucht sich als betont moderat zu geben. Ob die Armee das akzeptiert? Und noch mehr Frankreich, das bekanntlich einen fanatischen Laizismus vertritt?

Die entscheidende Frage ist, ob es eine politische Führung gibt, die in der Lage ist eine antiimperialistische Alternative von unten mit dem dafür notwendigen Bündnis und den unvermeidlichen Konflikten zu entwickeln. Derzeit scheint man aus der Führungslosigkeit (sicher bedingt durch die extreme Repression) eine Tugend zu machen.

Noch ist nichts entschieden. Das lässt sich am besten durch die westliche Berichterstattung beurteilen, die noch nicht bösartig wurde. Noch hofft man die Situation in den Griff bekommen zu können und sogar einen unschönen Despoten losgeworden zu sein. Sollte sich eine wirkliche Alternative zum Neokolonialismus festigen, dann wird das mediale Gift in den bekannten hohen Dosen fließen.

Mubarak vor dem Aus?

In Ägypten schlägt das Herz der arabischen Welt. Es hat in jeder Hinsicht die unbestrittene Führungsrolle inne. Die Bedeutung der gegenwärtigen Bewegung und eines möglichen Umsturzes kann daher gar nicht überschätzt werden. Es würde die Architektur der ganzen Region über den Haufen werfen.

Abgelesen kann das an der im Vergleich zu Tunesien doch unterschiedlichen US-Politik werden. Dort hatte man sich ab einem gewissen Zeitpunkt von Ben Ali abgewandt. Doch an Mubarak scheint man bis zum letztmöglichen Zeitpunkt festhalten zu wollen. Man mahnt Mubarak scheinheilig zu demokratischen Reformen doch ruft beide Seiten zur Mäßigung auf.

Doch der point of no return scheint überschritten. Die Variante der gewaltsamen Niederschlagung der Bewegung scheint passé. Die Polizei zog sich zurück, die Armee hat zwar Position bezogen ist jedoch bis dato nicht massiv gegen die Proteste vorgegangen. Die Bewegung versucht intensiv die Armee auf ihre Seite zu ziehen.

Auch in Ägypten ging der Aufstand von der Linken bzw. sogar einem demokratisch-liberalen Mittelschichtenmilieu aus. Die Moslembrüder, die wichtigste Kraft der politischen Opposition, verhielt sich zurückhaltend, opportunistisch-zögerlich. Erst angesichts der Wucht der Revolution beteiligte sie sich dann doch. Dabei muss immer mitgedacht werden, dass Ägypten der Geburtsort des modernen Islamismus ist und dieser daher über tiefe historische Wurzeln verfügt.

Mehr noch als die tunesische Ennahda böten sich die Moslembrüder (MB) in Ägypten als Träger der Regierung im Bündnis mit der Armee an. Da es sich beim Mainstream der Moslembrüder um eine Art Kaste des Mittelstandes handelt, kann von einer stabilen kapitalistischen Regierung ausgegangen werden. Doch dem Westen war das bisher ein zu großes Wagnis mit unabsehbaren Folgen für die Region. Auch ist keineswegs klar, ob die Armee für eine solche Variante zu haben ist.

Nicht nur sind die MB gespalten, es gibt auch einen konsistenten radikalen Flügel in der islamischen Bewegung, der den militanten Salafismus (z.B. Al Qaida) speist. Obwohl sie gegen die Elite, die Armee und auch den Westen vorgehen, stößt ihre kulturelle Rigidität einen guten Teil der Bevölkerung ab – insbesondere auch die rd. 15% christlichen Kopten. Sie können daher zwar nicht siegen aber durchaus eine Bewegung zerstören – siehe Irak.

Viel mehr als in Tunesien blieben die MB in Ägypten das Zentrum der Opposition. Die schwache Linke kann nur vorwärts kommen, wenn sie einen Teil der islamischen Bewegung für ein breites, einschließendes antiimperialistisches Projekt auf ihre Seite zieht. Anderenfalls wird sie eine erneuerte Regierung der alten Eliten – sei es mit oder ohne MB – nicht verhindern können, denn in Ägypten gibt es keine mit Tunesien vergleichbare Gewerkschaften oder andere politische Organe der Massenbewegung.

Sollte jedoch in Ägypten für den Westen tatsächlich etwas grundlegend schief laufen, dann wird man in der einen oder anderen Form mit einem militärischen Eingreifen des Westens rechnen müssen. Nicht umsonst hat Israel, die „einzige Demokratie des Nahen Ostens“ besonders heftig die gewaltsame Unterdrückung der Demokratiebewegung gefordert.

Schert der Libanon aus dem westlichen Orbit aus?

Im Schatten der Ereignisse in Tunesien und Ägypten kam es im Libanon zu einem historischen Regierungswechsel. Das antiwestliche Bündnis um Hisbollah hatte der Regierung Anfang des Jahres die Unterstützung entzogen und sie damit zu Fall gebracht. Nachdem sie in der Folge des Seitenwechsels des Drusenführers Jumblatt nun über die Mehrheit verfügte, nominierte die Hisbollah als neuen Premier Mikati, einen Milliardär aus dem Milieu des gestürzten Ministerpräsidenten Hariri.

Einzige Auflage: die libanesische Unterstützung für das von den USA inszenierte Hariri-Tribunal zurückzunehmen. Das Tribunal war durch die UN eingerichtet worden zuerst mit der Vorgabe Syrien verantwortlich zu machen und nach einem Kurswechsel nun die Hisbollah als Schuldigen vorzuführen. Saad Hariri hatte sich an dieses Diktat Washingtons immer gehalten. Doch scheinbar bröckelt die Position selbst unter seiner Klientel. Das mag darauf hindeuten, dass in den sunnitischen, prowestlichen Eliten einige den Konflikt mit Hisbollah dämpfen, jedenfalls den Preis des dräuenden Bürgerkrieges nicht zahlen wollen.

Das Hariri-Tribunal ist nach der militärischen Niederlage Israels gegen die Hisbollah 2006 der wichtigste Hebel der USA gegen diese. Wenn ihnen das Tribunal genommen wird und ihnen somit das erste Mal in der jüngeren Geschichte die libanesische Regierung entgleitet, kann das zu den üblichen Eskalationsschritten beginnend mit einem Embargo führen. Das brächte den Libanon nicht nur an den Rand eines neuerlichen Bürgerkrieges, sondern könnte auch den Anlass für einen bereits geplanten israelischen Angriff mit amerikanischem OK abgeben.

Das Zedernland könnte also der Ort sein, wo sich die militärische Aggression des Imperialismus entfalten wird. Obwohl dort die Gefahr der Überlagerung mit einem (ungewinnbaren) konfessionellen Bürgerkrieg besonders hoch ist, stehen jedoch andererseits die Chancen auf eine erfolgreiche Abwehr besser als andernorts. Die Hisbollah verfügt über eine Miliz, die einerseits kampferprobt, trainiert, professionell organisiert und durch die iranische Unterstützung gut ausgerüstet ist, auf der anderen Seite aber sehr eng mit dem einfachen Volk verbunden ist. Im Konfliktfall können schnell Zehntausende Kämpfer unter Waffen gesetzt werden und was genauso wichtig ist, mit der breiten und aktiven Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung gerechnet werden. Man findet also im Libanon hervorragende Bedingungen für die Abwehr einer westlichen Aggression vor – die die ganze Region in Brand stecken könnte.

Jemen, Jordanien, …

Auch in anderen Ländern wie Algerien und selbst im fernen Marokko kam es zu Solidaritätsbekundungen und Protesten gegen die eigenen Despoten. Doch keines der Regime ist so abgenutzt wie jene Tunesiens und Ägyptens. (Das soll nun nicht Gegenstand des Artikels sein.) Ein Sieg in Ägypten würde jedoch alles ändern, sowohl auf der Ebene der Volksbewegungen als auch auf jener der Institutionen und Diplomatie.

Abklingen der islamischen Welle?

Die letzten zwei Jahrzehnte war der antiimperialistische Widerstand vorwiegend islamisch gefärbt. Das hat vielerlei Gründe, die an anderer Stelle oftmals besprochen wurden. In einer Zeit nach einer Niederlage, in der Schwäche stärkt der Rückgriff auf religiös und kulturell verwurzelte Symbolik. Doch insbesondere beim sunnitischen Islam ergab sich das Problem, dass kultureller mit politischem Radikalismus verwoben wurde und die Hegemoniefähigkeit entsprechend abnahm. Das ist komplementär zu einem extremistischen Militarismus, der die politische Schwäche durch militärische Abenteuer auszugleichen versucht. In welchem Fiasko das Enden kann, zeigt sich am Beispiel des Irak.

Gelingt es in Tunesien (wo die Chancen besser stehen) und noch mehr in Ägypten Regime zu bilden, die die Interessen der breiten Massen vertreten und daher auch antiimperialistisch sind, dann wird die islamische Welle langsam abebben. Doch die Aufgaben der Bewegung sind himalayisch eingedenk der Tatsache, dass es keine gewachsenen politischen Führungen gibt. Die globale Schwäche der revolutionären Linken wiegt schwer. Nur durch einen forcierten Prozess mit notwendigerweise vielen Fehlern, Rückschlägen usw. kann einen neue politische Führung gebildet werden, die die Voraussetzung für einen wirklichen Erfolg ist. Das Ergebnis bleibt jedoch offen und die ganze Sache kann genauso schief gehen (wie uns bereits mehrfach in der Geschichte widerfahren).

Israel und Krieg

Die Geschichte lehrt, dass es keine Befreiung vom Imperialismus ohne bewaffnete Auseinandersetzung gibt. Nicht umsonst ist das American Empire darauf bedacht, seine militärische Überlegenheit zu bewahren. Krieg kann ein äußerst wirkungsvolles Mittel der Politik sein, kann aber auch hohe politische Kosten nach sich ziehen. Es wird daher von den US-Eliten, die praktisch das Monopol über die übergeordnete Kriegsführung inne haben, wohl erwogen. Der Nahe Osten ist jedoch insofern ein Sonderfall, weil die USA und der Westen im Allgemeinen mit Israel einen Verbündeten haben, der extrem militaristisch denkt und handelt.

Gegenüber Tunesien wäre es unter den gegenwärtigen Bedingungen für die USA und Frankreich ein ungeheurer politischer Fehler Waffengewalt einzusetzen. Noch ist alles offen und sie rechnen sich gute Chancen auf eine neokoloniale Lösung ohne direktes Eingreifen aus.

Was Ägypten betrifft stehen die Dinge anders. Noch ist der Ausgang der ersten Runde gegen Mubarak unklar. Sollte aber die ernsthafte Gefahr eines antiimperialistischen Regimes bestehen, das den Kompromiss mit Israel aufkündigt – die Mehrheit der Ägypter wünscht sich das –, dann liegt eine militärische Intervention durchaus im Bereich des Möglichen. Israel würde sicher darauf drängen und hat auch schon einige Kriege gegen Ägypten gewonnen. Die Tradition des Volkskrieges gibt es in Ägypten im Gegensatz zu vielen anderen Ländern der Region nicht.

Gaza, Jerusalem und Kairo

Das mörderische Embargo gegen Gaza scheint ewig und unverrückbar. Die Macht, die es wirklich möglich gemacht hat, nämlich Kairo, wankt. Der Sturz Mubaraks stellt sofort auch das Embargo in Frage. Wahrscheinlich wäre Israel als unmittelbaren Schritt gezwungen wieder die direkte Kontrolle über die Südgrenze des Gaza-Streifens zu übernehmen, was die politischen Kosten weiter erhöhte.

Aber Gaza ist nur das Symbol eines größeren Komplexes. Die ganze Entwicklung des palästinensischen Befreiungskampfes hin zu einer islamischen Färbung, die Degeneration der Fatah usw. hängt eng mit den ägyptischen Verhältnissen zusammen. Würde Ägypten sich wieder auf die Seite der Palästinenser stellen, brächen die versteinerten Verhältnisse auf. Der Sturz Mubaraks wäre ein gewaltiger Schub für den palästinensischen Widerstand.

Wir wiederholen: die Befreiung Jerusalems beginnt in Kairo!