Syrien: der Antiimperialismus bedarf des Volkes

06.04.2011
Demokratische Rechte stärken die arabische Revolution
Antiimperialistisches Lager
Syrien hat das einzige noch verbliebene arabische Regime mit antiimperialistischen Zügen oder Momenten: Es unterstützt die Hisbollah im Libanon und bietet den palästinensischen Widerstandsbewegungen politischen Raum – um nur die zwei wichtigsten Aspekte zu nennen. Nichtsdestotrotz ist die Einzementierung der absoluten, ja dynastischen Macht Bashar al-Assads der antiimperialistischen Sache in keiner Weise dienlich. Das Gegenteil ist nötig: Die Volksmassen brauchen frische Luft zum Atmen. Nur so kann für den Befreiungskampf gegen den allgegenwärtigen westlichen Neokolonialismus im allgemeinen arabischen Rahmen mobilisiert werden.

Als Revolutionäre müssen wir groß denken. Wenn wir nicht setzen wollen, unser politisches Kapital nicht riskieren wollen, sind wir zur Niederlage verurteilt. Vor unseren Augen bricht die imperialistische Architektur der arabischen Welt, ein neuralgischer Punkt der globalen Ordnung, unter den Stößen der Massen in sich zusammen. Nicht nur im Allgemeinen, sondern insbesondere in diesem Kontext muss die revolutionäre Bewegung entschieden mutiger und kühner als die imperialen Eliten sein. Es reicht definitiv nicht, die Errungenschaften der Vergangenheit zu verteidigen, die überdies unterdessen allzu schal geworden sind. Wir sind verloren, wenn wir unser Schicksal an jenes von Figuren wie Assad binden, ganz zu schweigen von Gaddhafi, der anders als Asad nur sich selbst verteidigt.

Das ägyptische Volk stürzte eine der wichtigsten westlichen Diktaturen überhaupt. Obwohl Mubaraks Regime noch da ist, wurde es kräftig erschüttert und kann nicht einfach zur Tagesordnung übergehen als sei nichts weiter geschehen. Die Volksmassen sind gerade erst in Bewegung geraten. Wir werden in der nächsten Periode eine Reihe von Kämpfen sehen, wovon einige auch Klassencharakter annehmen werden.

Kämpfe sind oft wechselhaft und im Ausgang offen. Die gegenwärtigen Ereignisse in Libyen müssen als Rückschlag gewertet werden. Dort ließ sich die Führung der Bewegung vom Westen in politische Geiselhaft nehmen und bat um eine militärische Intervention. Eine bessere Legitimation für den Neokolonialismus unter dem Deckmantel des Humanitarismus und der Demokratie kann man sich kaum vorstellen.

Damit soll das allgemeine Paradigma, dass der Westen die Tyrannen er Region stützt, zerbrochen werden. Die Herren der Welt versuchen wie so oft als Demokraten zu posieren. Im Gegensatz zu Sarkozy versteht Obama aber, dass er nicht übertreiben darf, denn die Grenze zum Demokratieexport nach irakischem Vorbild ist verdammt dünn und kann hohe Unkosten verursachen. Noch konnte der Imperialismus selbst in Libyen keine Ernte einfahren, denn es ist keineswegs gesagt, dass das, was nach Gaddhafi kommt, besser kontrollierbar sein wird. Zudem ist Libyen nur ein kleiner Teilaspekt einer allgemeinen arabischen Bewegung, die das imperiale Design der Region in Unordnung bringt.

Es reicht, einen Blick auf die Gärung am Golf zu werfen: Die bahrainische Revolte ist da nur die Spitze des Eisbergs. Auch im Jemen, im Oman und selbst im Kopf der Schlage, im saudischen Königreich, gibt es massive Proteste. All diese gekrönten Tyrannen wurden vom Imperialismus geschaffen. Er hält weiterhin seine schützende Hand über sie und duldet die blutige Repression, wie wir sie in Bahrain sehen. Die kleine Inselmonarchie ist übrigens nicht nur die Basis für die 5. US-Flotte, sondern auch Heimat der bedeutendsten Linken des Golfs.

Es ist dieser Kontext der allgemeinen arabischen Volksbewegung, der uns die Angst vor einer Mobilisierung in Syrien nehmen sollte. Nur durch demokratische Freiheiten und die Bewegung der Massen wird auf es lange Sicht möglich sein, dem Imperialismus die Stirn zu bieten, und nicht durch einen verkrusteten, bürokratischen und autokratischen Antiimperialismus, der nur zu oft schneller, als man sich dessen gewahr werden kann, kapitulierte. Um sich zu befreien, werden die arabischen Massen Volksaufstände mit einem Volkskrieg führen müssen, zu dessen Führung die alten staatlichen Eliten – auch jene, die mit dem Antiimperialismus spielen – gänzlich unqualifiziert sind. Anders ausgedrückt: die Zukunft liegt bei der Hisbollah, nicht bei Assad.

Klar, dass dieser Gegensatz heute nicht so deutlich erscheint. Assad unterstützt die Hisbollah und das müssen wir entschieden verteidigen. Gleichzeitig dürfen wir über diesen Pluspunkt nicht die Augen davor verschließen, wie wenig Zustimmung das Regime von unten hat, wie hohl und auch wie konfessionell organisiert es ist. Assad führte eine ganze Reihe von liberalistischen Reformen mit Privatisierungen und Abbau staatlicher Leistungen für die Armen durch. Die sozialen Gegensätze haben sich verschärft. Arbeitslosigkeit und extreme Armut sind allgegenwärtig. Die Forderung der Massen nach demokratischen Rechten und sozialer Gerechtigkeit ist absolut legitim und sie können nur durch Druck von unten, durch Demonstrationen und Massenproteste durchgesetzt werden, selbst wenn es dabei zu Gewalt kommen mag. Assad begeht einen unverzeihlichen Fehler, wenn er glaubt, Katz und Maus spielen zu können, indem er die Aufhebung des Ausnahmezustands in Aussicht stellt, ohne von einem Zeitpunkt zu sprechen. Will er die Zugeständnisse etwa erst dann machen, wenn die Bewegung abgeebbt ist? Für die Baath sind die Volksmassen die größere Gefahr als der Imperialismus.

Erlauben wir uns einen kurzen Blick auf die Geschichte. Da ist nicht nur der paradigmatische Verrat des Panarabismus durch Sadat nach Nassers Tod und die Niederlage von 1967. Doch was da von der historischen Bühne abtrat, war hohler, rhetorisch aufgeplusterter Antiimperialismus einer Elite, die weder fähig noch gewillt war, die Volksmassen zu mobilisieren und sich auf sie zu stützen. Die Assad-Dynastie spielt seit Jahrzehnten virtuos diese Geige, weil sie die Golan-Höhen nicht zurückbekommt – im Gegensatz zum Sinai, den Kairo mit beschränkter Souveränität zurück erhielt. Aus der Not eine Tugend machend, schmückt sich das Regime gegenüber den arabischen Massen mit seiner Standhaftigkeit gegen Israel.

Wir dürfen nicht vergessen, wie Syrien in den 1970er Jahren militärisch in den libanesischen Bürgerkrieg gegen die Linke und die Palästinenser eingriff, denn Syrien fürchtete nichts mehr als deren Sieg. Genauso wenig werden wir die syrische Unterstützung für die westliche Aggression gegen den Irak 1991 verzeihen, die Damaskus die US-Duldung für ihre militärische Präsenz im Libanon einbrachte.

Es ist nicht reiner Zufall, dass Assad nach dem mit Gewalt begegneten ersten Ausbruch der Proteste mit der vorsichtigen Unterstützung der imperialen Hierarchie aufwarten konnte. Während die mit Israel verbundenen Neocons ihre ständigen Aufrufe zum regime change nochmals intensivierten, ehrte US-Außenministerin Hillary Clinton Assad mit dem Prädikat „Reformer“. Auch der Saudi-König Abdallah sprang für ihn in die Bresche – trotz des Faktums, dass Assad mit dem Erzfeind Iran verbündet ist. Der Grund ist einfach: Auch sie fürchten sich vor einem Volksaufstand in einem der zentralen arabischen Staaten, der ordentlich Öl ins arabische Feuer gießen und schwer zu ersticken wäre. Da tut Assad allemal weniger weh.

Wie in Ägypten wird auch in Syrien angenommen, dass die stärkste Kraft der Opposition von den Muslimbrüdern gestellt wird. Diese haben noch eine Rechnung für das Massaker von Hama im Jahr 1982 offen, bei dem zehntausende Zivilisten von Assad senior niedergemetzelt wurden. Was ist von den Moslembrüdern zu erwarten, einmal abgesehen davon, dass es legitim ist, die Verantwortlichen für den Massenmord zur Rechenschaft zu ziehen?

Es sei auf die opportunistische Rolle hingewiesen, welche die Muslimbrüder in Ägypten spielten. Sie beteiligten sich erst an der Bewegung gegen Mubarak, als diese nicht mehr zu aufzuhalten war. Kaum war der Potentat gestürzt, suchten sie schon wieder den Kompromiss mit dem Militärregime, dessen politische Verwaltung sie gerne übertragen bekommen möchten. In diesem Sinn unterstützten sie das Verfassungsreferendum, mit dem die Militärs so viel als möglich beim Alten belassen wollen, im Abtausch mit Wahlen, aus denen die Muslimbrüder wahrscheinlich als Sieger hervorgehen werden. Eine Regierung unter Beteiligung der Muslimbrüder wird auf alle Fälle dazu gezwungen sein, sowohl auf die demokratischen Aspirationen des Volkes mehr Rücksicht zu nehmen als auch mehr Distanz zum Imperialismus zu halten. Die Muslimbrüder können sich nicht frontal gegen die Massen wenden, zu sehr sind sie in diesen verankert. Im Gegenteil gibt es schon eine massive demokratische Ansteckung. Die große Mehrheit der Unter- und Mittelklassen sind für Demokratie und verstehen sich gleichzeitig als islamisch. Obwohl eine wirkliche Konterrevolution derzeit unwahrscheinlich ist, weil sie vom Westen nicht offen unterstützt werden könnte, so bleibt deren Zentrum die Arme und die Seilschaften der alten Elite und nicht die Muslimbrüder.

Die ägyptische Linke und die globale antiimperialistische Bewegung muss die Muslimbrüder auf dem demokratischen Weg vorwärts stoßen und damit die konservativen Elemente, die lange Zeit dominierten, zurückdrängen. Ein westlich-areligiöses Herangehen würde den Tod der noch schwachen Linken bedeuten und gleichzeitig den Konservativen das politische Feld überlassen. Dabei hat die Line eine große Rolle zu spielen. Sie brach die Bewegung los und sie kann der Stachel in ihrem Fleisch bleiben. Und nur sie kann den Klassenkampf einbringen, den die Muslimbrüder ablehnen, aber nur schwer abstellen können.

Zurück zu Syrien: Dort stellen sich die Bedingungen insofern anders dar, als Assad scheinbar weiterhin mit der Unterstützung wichtiger Teile der Alawiten und Christen rechnen kann. Nicht umsonst vermochte er Hunderttausende zu mobilisieren, wovon Mubarak und Ben Ali nicht einmal zu träumen wagten. (Mubarak hatte die Unterstützung der Kopten, die er einst genoss, längst verloren.) So sehr das syrische Regime auf Konfessionen stützt, so sehr machen das auch die Muslimbrüder – wahrscheinlich noch mehr und vor allem offen. Die Gefahr eines konfessionell überformten Konflikts ist daher durchaus gegeben und muss von den antiimperialistischen Kräften mit allen Mitteln vermieden oder gedämpft werden.

Trotz der langjährigen, engen Zusammenarbeit der syrischen Muslimbrüder mit dem saudisch geführten, prowestlichen sunnitischen Block können sich auch diese nicht frontal gegen die Wünsche der Volksmassen stellen. Man wird mit der Annahme, dass diese jenen in den anderen arabischen Ländern ähneln, nicht fehlgehen.

Berücksichtigt man diese Besonderheiten Syriens, dann sollte – im Gegensatz zu den West-Diktaturen der Region – die unmittelbare Forderung nicht der Sturz der Assad-Regierung sein. Im Zentrum müssen heute die Forderungen nach vollen demokratischen Rechten und sozialer Gerechtigkeit stehen. Will Assad überleben, kann er sich nicht weiter taub stellen.

4. April 2011