Tunesien: Beobachtungen eines sommerlichen Heimkehrers

25.08.2011
Von Chihab Kraiem*
Wie stark ist der politische Islam wirklich?

Auf den ersten Blick waren keine besonderen Veränderungen zu sehen. Lediglich die früher allgegenwärtigen Bilder von Ben Ali fehlten und möglicherweise hingen noch ein paar mehr Flaggen als sonst in den Straßen. Sobald ich mich jedoch in ein Cafe setzte waren die Auswirkungen der Revolution unüberhörbar. Alles und jeder diskutierte über Politik. Die wenigsten wussten etwas konkretes, aber so gut wie jeder hatte etwas zu sagen. Einig war man sich sowieso fast nie.

Diese Eindrücke wurden von mir, während meines vierwöchigen Aufenthalts in Sayada und Mahdia, die in der vergleichsweise wohlhabenden Sahel Region liegen, gesammelt.

Manche hielten die jetzige Übergangsregierung für gefährlich und fürchteten deren Versuch die Macht zu behalten. Andere wiederum hielten sie für die einzige Möglichkeit das Land bis zu den Wahlen zu führen, da die Protestbewegung keine richtige politische Führung gehabt habe und die Wirtschaft nun erfahrene Technokraten, anstatt von unerfahrenen Idealisten brauche. Wer diese Meinung vertrat wies auch darauf hin das Beji Caid Cebsi sowohl unter Bourgeba, als auch Ben Ali immer sauber geblieben wäre und ihnen auch zu widersprechen gewagt habe.

Negativ auffällig war die verstärkte Präsenz von offensiv „islamisch“ Gekleideten, vor allem in den ländlichen Gebieten. Es war schon äußerst erstaunlich wie lang manche Bärte in einem halben Jahr wachsen konnten. Vereinzelt sah ich auch Frauen mit Niqab. Das wurde allerdings von den meisten Tunesiern abgelehnt. Auch die, die einen Islamischen Staat und die Einführung der Sharia und der Polygynie fordern sind eine eher kleine Minderheit.

Diese kleine Minderheit ist allerdings auch mit ein Grund für Vorbehalte gegen Ennadha. Einige fürchten, dass die jetzige Führung unter Ghannouchi von eben solchen Extremisten unterwandert, oder nach einem Wahlsieg gestürzt werden könnte. So gab es auch Gerüchte, dass Unruhen in Sidi Bouzid, bei denen ein 14-Jähriger durch eine abgeprallte Kugel getötet wurde, von Islamisten angezettelt worden seien.

Manche halten auch bereits die jetzige Führung für gefährlich und meinen sie würde ihr wahres. bzw. undemokratisches Gesicht erst zeigen, wenn sie die nötige Mehrheit gewinne, um die Verfassung ändern zu können.

Daneben gibt es noch die, die zwar keine extremen Islamisten sind, trotzdem jedoch Ennadha wählen wollen. Diese, nennen wir sie einmal demokratischen Islamisten, halten Ennadha für ungefährlich und vor allem, im Gegensatz zu den meisten anderen Parteien, für nicht korrupt. Diese Ansichten werden ihrer Meinung nach durch die Verfolgung, der die Ennadha ausgesetzt war untermauert.

Interessanterweise ist man sich noch nicht einmal darüber einig, ob die Ennadha tatsächlich so viele Anhänger besitzt, wie oft angenommen wird. Einige halten sie für die wahrscheinliche Gewinnerin und befürworten, oder fürchten ein solches Ergebnis.

Andere wiederum argumentieren, dass der Großteil der Massen, die Ennadha bei ihren Kundgebungen mobilisiert von Ort zu Ort mitzieht und so den Eindruck von sehr viel mehr Befürwortern erweckt, als dies tatsächlich der Fall ist.

Generell scheint die Masse an vorhandenen Parteien die Menschen eher zu verwirren. Viele wissen noch nicht wen sie wählen sollen, oder werden eine der alten, bekannten Parteien wählen.

Direkte Antiimperialisten habe ich keine getroffen. Allerdings empfindet auch niemand Sympathie für die USA, Israel oder die Westeuropäischen Staaten. Es glaubt aber auch kaum einer ohne wirtschaftliche Zusammenarbeit mit eben diesen Staaten überleben zu können. Die meisten hoffen auf ein Wirtschaftsbündnis der Maghreb-Staaten nach einem Erfolg der Aufstände. Auch wenn jeder, zumindest in Worten und Gedanken, die Hamas und Hizbollah unterstützt so sind sich doch alle darin einig, dass auch die „antiimperialistischen“ Regime in Syrien und Lybien verschwinden müssen. Die vorherrschende Stimmung war in dieser Sache ausnahmsweise klar erkennbar: egal ob eine Marionette des Westens oder ein Unterstützer des palästinensischen Widerstands, sobald ein Führer beginnt seine Leute zu unterdrücken und seine Handlanger auf Demonstranten schießen lässt, hat er seinen Führungsanspruch verloren.

Es hatte auch niemand, mit dem ich gesprochen habe, Angst das die nächste syrische Führung pro-westlich sein könnte.

Dafür das Gaddafi immer noch an der Macht ist machten sie auch nicht seine Unterstützer verantwortlich, sondern meinten eher die NATO wolle Druck auf die verschiedenen Rebellengruppen ausüben, um sie zu Anerkennung Israels zu bewegen.

Abschließend lässt sich sagen, dass es zwar einige Ausreißer nach Rechts und Links (von letzteren allerdings weniger) gibt, doch die meisten wünschen sich einfach eine Regierung, die sie und das was sie als den Grundcharakter Tunesiens begreifen repräsentiert. Das bedeutet weder linksextrem, noch islamistisch.

Allerdings erscheint es mir so gut wie unmöglich den Staat neu auszurichten, wenn die Menschen nicht lernen die tief verwurzelten regionalen Vorurteile zu überwinden und zusammen zu arbeiten.
Diese Vorurteile werden und wurden vor allem kurz nach der Flucht Ben Alis, von den auf regionaler Ebene verbliebenden Mitgliedern und Strukturen der RCD gezielt weiter geschürt um eine gelungene Selbstverwaltung zu verhindern.

* Chihab Kraiem ist in Österreich aufgewachsen und studiert Geschichte in Wien. Seine Eltern stammen aus Tunesien.