Pax russiana?

30.12.2016
Nach der Rückeroberung Aleppos: Aussichten des Waffenstillstands und Erdogans Verrat am Jihadismus
Von Wilhelm Langthaler
Die Rückeroberung Aleppos durch die Assad-Koalition ist ein Wendepunkt im syrischen Bürgerkrieg. Vor allem legt sie das Scheitern der neoosmanischen Ambitionen Erdogans bloß, der sich mit einem wilden Zickzack-Kurs zu retten versucht. Während die russische Militärintervention ein offensichtlicher Erfolg ist, bleibt abzuwarten ob der Waffenstillstand hält und in einen von Moskau diktierten Frieden umgewandelt werden kann.

Der Kreml stellt jeder Regionalmacht ihren Anteil am Kuchen in Aussicht, auch den Verlierern, sichert implizit auch die Interessen Israels und selbst die USA könnten eingebunden werden. Doch das Grundproblem, die internen Ursachen des Konflikts in Syrien und der gesamten Region, werden in alter russischer staatlicher Tradition unterdrückt. Die Bevölkerung mit ihren diversen Identitäten wird keine Selbstbestimmung zugestanden, geschweige denn, dass die sozioökonomischen (Macht)strukturen thematisiert würden. Russland schließt damit an die Rolle des westlichen Kolonialismus und Imperialismus an – und wir rechnen mit dem mittelfristigen Scheitern an den zahlreichen Widersprüchen der Region, in der sich auch jene des globalen Systems schneiden.

Der Fall Aleppos – eine Zwischenbilanz

Die militärische Einnahme Aleppos galt als Krönung der islamischen militärischen Rebellion. Sie baute auf dem extremen Militarismus der Jihadis auf, der die sozialen und demokratischen Inhalte des Aufstands bereits nach wenigen Monaten erdrückt hatte. (Es war kein Zufall, dass es die ärmeren Viertel des Ostens, die sich dem Aufstand anschlossen, während der wohlhabende Westteil der Metropole in der Hand des Regimes verblieb.) Militarisierung, Islamisierung, Konfessionalismus und Jihadisierung gingen Hand in Hand. All das wurde vom Golf und insbesondere von der Türkei unterstützt und bestärkt, die wiederum auf amerikanische Hilfe nach dem libyschen Vorbild setzten.

Nicht nur die Linke wurde marginalisiert, auch für diejenigen, die als Ersatz für die linken „vereinigten Volksmassen“ die westliche Militärmacht anriefen, kamen die Dinge anders. Die USA schreckten nach den schlechten Erfahrungen im Irak vor einer direkten und massiven militärischen Intervention zurück. Sie setzten auf die indirekte Unterstützung durch die altbewährte Bildung von abhängigen Kräften in Form der „Freien Syrischen Armee“. Doch es zeigte sich bald, dass dieser Unterfangen scheitern würde, auch weil ohne militärische Machtprojektion der US-Hebel zu schwach war. Einerseits ist der Hegemonieverlust der USA enorm, andererseits spielten auch die Regionalmächte Türkei, Saudiarabien und Katar ihr eigenes Spiel – ebenfalls Ausdruck der Machtverlustes Washingtons. Die bewaffnete Bewegung wurde jihadistisch oder sie war nicht. Das bedeutete aber auch, dass zu antiwestlichen Positionen tendierte.

So sehr die USA Assad stürzen wollten, so wenig waren sie an einer Machtübernahme der Jihadis interessiert, denen ja der globale Krieg erklärt worden war. (Wir haben die Simplifizierung vieler Linker, Antiimperialisten und Prorussen, nach der der Politische Islam eine exklusive Kreatur und ein willfähriges Werkzeug der USA und des Westens wäre, vielfach kritisiert und auf die Kongruenz mit dem antiislamischen Herrschaftsnarrativ hingewiesen.)

Emblematisch ist dabei die „Rote Linie Giftgas“ vom Sommer 2013. Es wurde seitens der USA eine Drohkulisse aufgebaut mittels derer eine klassische US-Militärintention gerechtfertigt hätte werden können, inklusive regime change. Doch in letzter Sekunde zog Obama zurück. Er hatte keine gangbare Alternative in petto. Damit war aber auch die Variante der „moderaten Islamisten“ gestorben.

Seit damals ist die US-Politik gelähmt. Der Ball war bei den Jihadisten mit der Türkei und dem Golf im Rücken, die Assad ordentlich in Bedrängnis brachten. Der Islamische Staat feierte 2014 unter Duldung der Türkei einen kometenhaften Aufstieg vor allem mit der Einnahme von Mosul und weiter Teile des irakischen Nordwestens.

Im Spätsommer 2015 eilte Russland dem schwer ramponierten Assad mit einem massiven Luftkrieg nach amerikanischem Vorbild (auch was die ideologische Begleitmusik betrifft) zur Hilfe. Iranische Truppen und libanesische Hisbollah hatten schon zuvor eingegriffen und dem Regime das Überleben gesichert, reichten aber nicht zur Gegenoffensive. Erst die russische Luftwaffe konnte die Kräfteverhältnisse am Schlachtfeld Schritt für Schritt umkehrte.

Die nächste Wendung kam mit der Schlacht um Kobane, als der IS versuchte das kurdische De-facto-Autonomiegebiet stark zu reduzieren. Sehr zum Ärger der Türkei entschieden sich die USA im Herbst 2015 dafür die PKK-nahe Kurdenmiliz PYD mit Luftangriffen auf den IS zu unterstützen, was schließlich zu dessen Rückzug und zur massiven Ausweitung der Gebiete unter kurdischer Kontrolle führte. (Dieser Beitrag von Oktober 2014 geht noch von der feindlichen Haltung der USA gegenüber der PYD aus und analysiert das Vakuum an der Stelle der US-Handlanger.)

Nach dem Abschluss eines russischen Kampfjets im November 2015 durch die Türkei verhängte Moskau nicht nur ein Wirtschaftsembargo gegen Ankara, sondern verstärkte seinen Einsatz, der sich direkt gegen türkische Interessen richtete.

Mitte 2016 sah sich die Türkei gezwungen eine 180-Grad-Kehrtwende zu unternehmen und sich bei Russland zu entschuldigen. Knapp danach erschütterte der Putschversuch das AKP-Regime. Erdogan musste einsehen, dass er sich zu viele Feinde gemacht hatte. Nun ging es darum zu retten was zu retten war, denn ein durchgehender kurdischer Korridor entlang der syrische Grenze drohte. Eine stille Vereinbarung zwischen Ankara und Moskau erlaubte einen militärischen Vorstoß türkischer Truppen westlich des Euphrats zur Verhinderung eines durchgehenden kurdischen Territoriums im Abtausch für die Aufgabe des eingekesselten Aleppos.

Die Einhaltung und Dauerhaftigkeit des nun vereinbarten Waffenstillstands hängt stark davon ab, ob die Türkei die von Moskau geforderte Isolierung der unabhängigen Jihadi-Gruppen wie der ehemaligen Nusra-Front gegenüber den von ihnen kontrollierten islamistischen Einheiten durchsetzen wird können. In rein militärischer Logik kommt das einer Selbstbeschädigung gleich. Die USA waren – auch wegen der türkischen Obstruktion – daran gescheitert. Die Assad-Allianz hat jedenfalls angekündigt, dass sie ihre Angriffe auf „terroristische Banden“ weiterführen werde. Die Definitionshoheit darüber, wer das denn sei, hat aber immer der, der über die politisch-militärische Macht verfügt.

Türkisches Desaster

In dem in Europa vorherrschenden antiislamischen Narrativ werden alle islamischen Kühe grau. Hauptsache, es wird auf die AKP und Erdogan eingeschlagen. Dabei wird nicht sichtbar, vor welchem Scherbenhaufen diese stehen. Die außenpolitischen Wendungen und die innenpolitischen Verhärtungen legen davon Zeugnis ab. (Hier eine knappe historische Analyse der türkischen Geschichte seit dem Militärputsch 1980.)

Blenden wir zurück: 2011 erschien Erdogan als demokratisch-islamischer Messias. Am türkischen Modell sollte die ganze arabische Welt genesen und gleichzeitig das Osmanische Reich in moderner Form wiedererstehen. Das Ende Assads schien nur mehr eine Frage der Zeit und so setzte nicht nur die Türkei alles auf seinen Sturz, wenn nötig nach dem Vorbild der Intervention in Libyen.

Aber der sunnitische Politische Islam hat sich zu einer demokratisch-islamischen Revolution als unfähig erwiesen. Angesichts der zahlreichen und auch politisch-kulturell einflussreichen Konfessionen im Land, hätte es einer sehr großen demokratischen Umsicht und konfessionellen Toleranz bedurft, so wie sie die libanesische Hisbollah ansatzweise versucht hatte. Der sunnitische Politische Islam ging aber mit der vollen konfessionalistischen Exklusivität in die Schlacht, was dem Regime sehr zu Gute kam, welches dieses Spiel noch geschickter, weil nicht offen, spielte. Sofort explodierte ein konfessioneller Bürgerkrieg.

Das türkische AKP-Modell war zudem nicht revolutionär, sondern gradualistisch-konservativ. Es sah eine Demokratisierung unter Koexistenz der liberal-säkularen Schichten mit jenen konservativ-islamischen vor, mit der Aussicht auf eine kurdische Einbindung. Gleichzeitig sollte eine islamische kapitalistische Elite geschaffen werden. Die alten autoritären kemalistischen Eliten sollten sanft zurückgedrängt werden und sozial eingebunden bleiben. Mit Massenbewegungen hat der Erdoganismus nichts am Hut und kann damit nicht umgehen.

Wer den Bürgerkrieg einmal losgetreten hat, muss auch den logischen nächsten Schritt machen: die Jihadisierung, auch wenn die nicht von Anfang an geplant gewesen sein mag. Mehr noch, die Konfessionalisierung wirkte massiv auf die Türkei zurück und lies das Bündnis mit dem liberalen Mittelstand letztlich zerbrechen (siehe die Gezi-Bewegung 2013). Wie so oft wird der Zauberer die Geister, die er gerufen hat, nicht mehr so leicht los. Die Jihadis werden für das AKP-Regime zunehmend zu einem unkontrollierbaren Risiko, insbesondere nachdem sie sie „verraten“ haben. So erklärt sich auch der Anschlag auf den russischen Botschafter in Ankara im Dezember 2016, der von einem Elitepolizisten und Mitglied der Leibwache Erdogans durchgeführt wurde.

Auch das Zerwürfnis mit den USA rührt letztlich daher. Aus Angst vor dem Jihadismus und in Ermangelung jeder anderen Alternative hat Washington ab 2014 auf die PYD-Kurden gesetzt, während Erdogan den Friedensprozess mit den Kurden aufkündigte. Der Bürgerkrieg dehnte sich in der Folge auf den kurdischen Südosten des Landes aus.

Doch der Ausgleich mit den Kurden war die Rückversicherung Erdogans gegen die alten kemalistischen Eliten gewesen. Diese spüren nun wieder Rückenwind. Der Putschversuch im Juli 2016 war ein sehr ernstes Warnsignal. Die AKP macht dafür ausschließlich die Bewegung Fetullah Gülens verantwortlich, die sicher Teil dieser alten Eliten waren. Doch darf nicht vergessen werden, dass die Hikmet-Bewegung Gülens der AKP sehr dienlich war, in dem sie die Zurückdrängung der Kemalisten aus dem Staatsapparat von innen schmierte (Ergenekon etc.).

Der Fingerzeig auf Gülen soll die Rückbewegung Erdogans Richtung der alten Eliten verdecken. Der Bruch mit Gülen kam über dessen Ablehnung des Ausgleichs mit den Kurden. Nun macht Erdogan inhaltlich genau das, was Gülen von ihm gefordert hatte. Zudem befindet er sich in einem engen Bündnis mit der rechtsnationalistischen MHP, die den tiefen Staat der Paramilitärs organisiert hatten, dem schlimmsten Restbestand der Militärdiktatur.

Die Putschisten waren proamerikanisch. Das war der Hauptinhalt ihres einzigen Kommuniqués. Und tatsächlich zögerten die USA einen Augenblick, bevor sie sich auf die Seite der gewählten Regierung stellten. Doch es gibt einen Zusammenhang zwischen Nato und türkischem Nationalismus, ganz im Gegensatz zu den diversen Formen des arabischen Nationalismus. Die gesamte Nachkriegszeit hindurch konnte sich die türkische nationale Größe vor allem auf den Nato-Schirm stützen. Ohne die USA könnte die Türkei sehr schwach werden. Allein das Beispiel Zypern sagt alles.

Und die Wendung nach Russland als Ersatz? Das nach außen hin zelebrierte Bündnis ist noch ausgesprochen oberflächlich und muss seine Feuerprobe erst bestehen. Es sind die russischen Sieger, die die Bedingungen diktieren. Und die Interessengegensätze in Syrien sind deswegen nicht verschwunden. Ein russischer Verrat kann nicht ausgeschlossen werden, der Erdogan wie einen begossenen Pudel zurücklassen würde.

Ganz unmittelbar geht es um den türkischen Vorstoß auf die Kleinstadt Al Bab nordöstlich von Aleppo, die vom IS gehalten wird. Die türkische Armee hat sich bisher daran die Zähne ausgebissen. In wenigen Wochen musste sie mehr Verluste hinnehmen als die russische Armee innerhalb mehr als eines Jahres. Ihre arabischen Bodentruppen sind gegen den IS praktisch kampfunfähig, während die harten Jihadis, die Ankara aus Ostaleppo evakuieren ließ und vor Al Bab bringen wollte, einen Boykott ausgerufen haben. Sie stellen sich gegen den türkischen Verrat und sehen den IS nicht als ihren Hauptfeind an. Außerdem hat angeblich die syrische Armee türkische Positionen bei Al Bab beschossen, was ohne russische Duldung kaum denkbar wäre. Das wird als russische Warnung gelesen, nicht weiter gen Süden vorzustoßen.

Doch die Türkei wollte eigentlich den USA beweisen, dass sie dazu fähig wären den Angriff auf die syrische IS-Hauptstadt Raqqa zu führen – anstatt der kurdisch dominierten Syrian Democratic Forces (SDF), auf die Washington setzt und die zügig vormarschieren.

Die unabhängigen radikalen Jihadisten wurden in die Provinz Idlib verbracht, wo teilweise ein Nusra-Kalifat herrscht. Bisher wurden sie von der Türkei aus versorgt. Die Waffenstillstandsvereinbarung ist zu interpretieren. Unmittelbar wird es wohl weniger russische Angriffe auf Idlib geben, doch es muss davon ausgegangen werden, dass weder die einen noch die anderen aufgeben werden.

Wird und kann die Türkei, die Geister, die sie gerufen hat, wieder vertreiben? Das geht nur zu sehr hohen politischen Kosten. Denn der islamistische Block in der Türkei, die einzig verbliebene Hausmacht Erdogans, wurde auf den Jihad getrimmt. Die Kämpfer nun aufzugeben, käme einem Verrat gleich. Auch wenn man mittels Medienmacht einen solchen Bruch überspielen kann, so macht er sich über kurz oder lang in einem Hegemonieverlust bemerkbar, der im nicht-islamischen Milieus bereits total ist.

Und zu guter Letzt droht auch noch der kapitalistische Zyklus, auf dem Erdogan schwamm, zu Ende zu gehen. Es bliebe ihm nur ein keynesianischer Schwenk – schwer vorzustellen, aber nicht auszuschließen. Erdogans Regime panzert sich für schwere Zeiten und es sieht nicht danach aus, also würde er die Macht freiwillig abgeben oder auch nur teilen wollen. Den stärksten Block in der Gesellschaft repräsentiert er allemal, seine Mehrheit schrumpft aber. Der syrische Bürgerkrieg, den die Türkei mit ausgelöst hat, bedroht diese selbst.

Kurdische Karte

Welchen Preis verlangt Ankara wohl für die Bändigung des Jihad gegen Assad? Die Pufferzone von Jarablus, der Einflussbereich in der Provinz Idlib und vielleicht ein paar Ankara-freundliche Mitglieder eines zukünftigen Kabinetts? Das sind alles Brosamen im Vergleich zu den neoosmanischen Zielen. Der Preis kann nur in der Begrenzung der kurdischen Autonomie durch den Kreml und durch Assad bestehen. Kann das gelingen?

Zweifelslos sind Moskaus Machtmittel sehr gewachsen und es hat auch ein eminentes Interesse Ankara bei der Stange zu halten. Doch die Kurden sind keine Hampelmänner (genauso wenig wie die radikalen Jihadisten). Sie werden die hart errungenen Erfolge nicht so einfach hergeben. Sie haben sich nicht nur mit den Russen, sondern auch mit den USA verbündet, die sie auserkoren haben um auf Raqqa zu marschieren. Und letztlich braucht Moskau den Washingtoner Stempel für eine stabile Lösung.

Moskau und/oder Washington können die Kurden in die Schranken weisen, zurechtstutzen, aber sie können sie nicht ohne weiteres auf nichts reduzieren, so wie es Ankara zu erzwingen versucht. Die Türkei wird sich vermutlich mit einem Kompromiss abfinden müssen, den man als weitere Teilniederlage interpretieren kann.

Aber auch die Kurden pokern mit der Abhängigkeit von den Großmächten hoch und können viel verlieren, insbesondere dort wo so auf mehrheitlich nichtkurdisches Gebiet vordringen. Es wäre wohl aus linker Sicht besser gewesen manchen Schlachten auszuweichen und damit die Abhängigkeit nicht so exorbitant werden zu lassen.

Gordischer Knoten Irak, iranische Machtansprüche und Konfessionalismus

Der Kreml hat offensichtlich verstanden, dass er aus der Position der militärischen Stärke die Türkei und auch Saudiarabien in irgendeiner Weise abfinden muss. Auch um Israel wird er sich kümmern, das mit dem Bürgerkrieg bisher gut gefahren ist. Russland wird Tel Aviv zusichern, dass sich ein von Moskau modifiziertes Regime den Status quo ante mit Israel nicht verändern wird. Was die USA betrifft, wartet man auf Trump und hofft auf einen Ausgleich, der einem behübschten Regime den Segen der „internationalen Gemeinschaft“ erteilt. Doch Trumps zukünftiger Kurs ist alles andere als gewiss.

Größte Schwierigkeit für einen Interessensausgleich ist indes die verbündete iranisch-schiitische Achse. Im Irak ist das am augenfälligsten. Das Bagdader Regime ist unwillig und unfähig dem arabisch-sunnitischen Nordwesten des Landes ein Zugeständnis Richtung politischer Autonomie zu machen, was wohl in der ersten Runde eine Führung irgendwo zwischen Baath und Politischem Islam bedeuten würde. Ganz in syrisch-russischer Art kennt es nur die militärische Lösung. Mit Unterstützung der USA will es Mosul einnehmen, doch mit den schiitischen Milizen und deren Revanchismus treibt es die Bevölkerung in die Armee des IS. So wie es aussieht, werden sie Mosul auch diesmal nicht einnehmen oder nur zu dem Preis eines Massakers wie in Aleppo. Auf der Basis der iranischen Vormacht kann der Irak nicht befriedet und der IS nicht geschlagen werden.

Für Syrien selbst gilt sinngemäß das gleiche, auch wenn die konfessionelle Teilung keine so klare territoriale Zuordnung wie im Irak hat. Das Assad-Regime kannte und kennt als Antwort nur Repression. Den Politischen Islam kann es nur als security issue und nicht als Phänomen des Protests fassen, daher wollte und konnte es nie eine politische Lösung anbieten. Der Konfessionalismus der Islamisten kam dem Regime entgegen, ja es provozierte ihn richtiggehend, um seine eigene Basis ebenfalls konfessionell mobilisieren zu können. Die Jihadisierung des Aufstands machte in politisch besser bekämpfbar. Insbesondere der Iran unterstützt diese Linie mit voller Wucht.

Die Jihadisten haben die Schlacht um Aleppo verloren. Es ist eine tiefe, historische Niederlage. Die politische Schuld für das Massaker trifft beide Seiten gleichermaßen, denn sie sind in gleicher Weise ausschließend. Doch in der konkreten Gewaltanwendung hat das Regime, Russland und der Iran gigantische Verbrechen begangen, die jene der anderen Seite bei weitem in den Schatten stellen. Mittels Luftangriffen, Artilleriebeschuss und Belagerung wurden Aleppo und andere Städte oder Viertel ohne Gnade dem Erdboden gleichgemacht mitsamt der Zivilbevölkerung. Auch wenn der Vorwurf der Geiselnahme durch die Jihadis im übertragenen politischen Sinn richtig sein mag, gibt es nichts, aber auch gar nichts, was ein solches Vorgehen rechtfertigen kann.

Das wird sich tief, über Generationen in das Bewusstsein der Bevölkerung eingraben und eine Spirale der konfessionellen Revanche nach sich ziehen. Es war das Massaker von Hama 1982 mit mehreren Zehntausend Toten, auf das der radikale militärische Islamismus aufbaute und mit Hilfe dessen er sich legitimierte. Der gegenwärtige Bürgerkrieg hat um eine Potenz mehr Opfer gekostet und der Großteil geht auf das Konto des Regimes.

Würde man jetzt die Hand ausstrecken und als Sieger einen Kompromiss gegenüber Teilen der islamischen Bewegung anbieten, könnte man eventuell einen Schritt zur Abbau des Konfessionalismus machen. Doch das ist nicht zu erwarten. Vielmehr haben Assad und seine Generäle den Kampf bis zum totalen Sieg proklamiert. Genauso wie im Irak. Die vorsichtigen Anmerkungen des Kremls nach Dezentralisierung verschallen.

Eine dauerhafte iranisch-schiitische Dominanz, selbst wenn sie sich als „Achse des Widerstands“ zu legitimieren versucht, über überwiegend arabisch-sunnitische Bevölkerung ist in den politisch-kulturellen Zentren dauerhaft nicht möglich und wird zu Gegenreaktionen führen – der Jihadismus und insbesondere der Islamische Staat sind solche, die zudem noch von den vom Westen geschaffenen Ölmonarchien instrumentalisiert werden.

Warum ein russischer Siegfrieden brüchig sein könnte

Der russische militärische Erfolg ist beträchtlich, aber der Krieg noch nicht vorbei und vor allem die darunterliegenden gesellschaftlichen Konflikte, die ihn hervorgerufen haben, in keiner Weise gelöst. Einige wurden sogar noch verschärft. Fassen wir zusammen:

• Der soziale Niedergang einer Bevölkerungsmehrheit durch das globale Regime und seine lokalen Handlanger setzt sich ungebremst fort. Das ist der Treibstoff, der die Volksrevolten gegen Sisi, Assad, Ben Ali usw. auf der untersten Ebene befeuerte und noch immer antreibt, auch wenn deren politischer Ausdruck das Soziale oft bis zur Unkenntlichkeit entstellen mag. Repression kann kurz- oder auch mittelfristig Ruhe herstellen, aber nicht dauerhaft.

• Der Politische Islam ist ein vielgestaltiges Phänomen, das auch eine Form des Protests gegen die bestehende globale Ordnung enthält. Kein Regime kann ihm allein mit Repression beikommen, auch nicht mit Russland im Rücken. Das war selbst im kleinen Tschetschenien nicht möglich, geschweige dem im Zentrum der arabisch-islamischen Welt.

• Die pax russiana enthält ein Moment einer pax persiana, die nicht nur für den sunnitischen Identitarismus, sondern auch für die nationale arabische Identität nicht akzeptabel ist.

• Russland sichert Israel, eine Form des westlichen Kolonialismus und Imperialismus, der die Emanzipation und Selbstbestimmung der Region verhindert.

• Russland schert sich nicht um die Selbstbestimmung der Völker der Region und bewegt sich damit in den imperialen Fußstapfen des Westens. Selbstbestimmung würde bedeuten, die verschiedenen Ebenen der Identitäten in Rechnung zu stellen und in eine Architektur des Interessensausgleichs zu bringen. Das Nationale steht dabei über dem Konfessionellen, kann es aber nicht ganz verdrängen.

Die russische Intervention hat das Assad-Regime gerettet, die Türkei und den Golf in die Schranken gewiesen und gegen die USA und den Westen die multipolare Tendenz verstärkt. Russland militärisches Auftrumpfen hat es wieder zur Großmacht in seinem Umfeld gemacht. Noch ist nicht gesichert, ob der Bürgerkrieg durch das fortgesetzte Blutbad beendet werden kann – es gibt noch zu viele Unwägbarkeiten. Durch die zugrundeliegenden gesellschaftlichen Konflikte hat der Kreml nicht nur nicht gelöst, sondern sogar weiter vertieft. Sie werden mittelfristig wieder hochkommen, wenn auch in neuer Form und Kombination. Ein möglicher Ort ist die Türkei selbst.

Großmächte und selbst kleinere transportieren immer eigene Interessen, die jenen der Emanzipation anderer zuwiderlaufen. Das gilt für den europäischen Kolonialismus und amerikanischen Imperialismus, war sui generis auch bei der Sowjetunion der Fall und ist es nun noch mehr beim kapitalistischen Russland. Militärinterventionen, die nicht direkt der Selbstverteidigung dienen, sind daher aus demokratischer und antiimperialistischer Sicht in der Regel abzulehnen, nicht nur dann, wenn sie von den USA geführt werden.

Es war Lenin, der das Prinzip der Selbstbestimmung statuierte und dabei insbesondere auf die imperialen Großmächte zielte. Den untergeordneten und unterdrückten Völkern wird das Recht auf Selbstbestimmung inklusive Abtrennung zugestanden, um das Angebot der Vereinigung der Subalternen gegen die kapitalistischen Eliten glaubwürdig zu machen. Dieses universalistische Prinzip der Emanzipation ist auch heute noch der Schlüssel zum Interessensausgleich und Frieden, auch wenn es nicht mehr nur allein national gedacht werden kann. Es ist kein Zufall, dass im heutigen Russland vor allem Lenin verfemt ist und nicht Stalin.