Antiimperialismus und Neues Weltsystem: eine Notiz

22.07.2018
Von A.F. Reiterer
Der Tiersmondismus unsere Probleme heute und die notwendige Debatte

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Der Tiersmondismus ist tot, und Tote muss man nicht noch einmal totschlagen, auch nicht im Nachhinein. Aber der Imperialismus ist nicht tot, und damit auch nicht der Anti-Imperialis­mus. Eine Auseinandersetzung mit seinen neuen Formen ist notwendiger denn je. Wir müssen uns somit auch mit den alten Fehlern in den Analysen beschäftigen, dies umso mehr, als gera­de die Linke dazu tendiert, alte Konzepte weiterzuziehen und hagiographisch zu verewigen. Das ist ein fast lächerlicher Widerspruch zu unserem Anspruch auf die Zukunft. Aber der Rückzug in das Nischen-Dasein der politischen Kleinorganisation bringt dies eine Zeitlang fast notwendig mit sich.

Anouar Abdel-Malek (1924 – 2012) war ein ägyptischer Politik-Theoretiker, welcher den Großteil seines Lebens in Frankreich verbringen musste, als Flüchtling vor Nasser und Kon­sorten – den er bewunderte. Er hat u. a. ein lesenswertes Buch über das nasseristische Ägyp­ten geschrieben (Abdel-Malek 1971), auch wenn man vielem darin nicht zustimmen wird.

Auf der Recherche über Literatur zum Weltsystem heute stieß ich beim Durchblättern der Wallerstein’schen Review auf einen Artikel aus seiner Hand (Abdel-Malek 1979). Der Titel ließ mich aufmerken. Denn die Frage des politisch angeeigneten Mehr-Werts oder Mehr-Produkts scheint mir ein zentrales Konzept zum Verständnis der Geschichte. Ihn ausschließ­lich in die Ökonomie abzuschieben, wie es schon Engels versuchte, führt nur zu Fehlgriffen.

Doch leider erwies sich der Text als eine riesige Enttäuschung. Der so wichtige Begriff in der fragwürdigen Phrasierung „historischer Mehrwert“ wird hier zum Eckpfeiler einer ganz ordi­nären Dritte-Welt-Ideologie. Abdel-Malek wird als Marxist bezeichnet und hat sich wohl auch selbst so gesehen. Der Begriff Mehrwert aus dem intellektuellen Repertoir des Sozialis­mus dient ihm hier aber zu einer orientalistischen Grundhaltung. Er lehnt „den Westen“ mit all seinen Erscheinungen ab; nicht nur den kapitalistischen Westen, sondern auch die damals noch existente Zweite Welt des Sowjet-Sozialismus. Das wäre für mich soweit kein Ansatz, der mich so fundamental störte. Aber es sind die Argumente, mittels der er seine Haltung begründet, und dem entsprechend die Umrisse seiner Zielsetzung. Denn sein „Neues Zivilisa­tionsprojekt“ aus den „konvergierenden, doch unterschiedlichen Zivilisationsprojekten der großen Kulturen mit ihren jeweils historisch spezifischen Werten“ braucht nur einen winzigen Anstoß – und schon kippt es in die reaktionären „asiatischen Werte“ des Lee Kuan Yew seligen Angedenkens, und in die „russische Seele“ des Moskauer Patriarchen im Verein mit Solschenizyn. Und die Neubelebung des Konfuzianismus durch die heutige chinesische Führung gehört auch in dasselbe Eck – Mao hat den Konfuzianismus bekanntlich als durch und durch reaktionär bekämpft. – Aus dem Primat der Politik wird bei Abdel-Malek auf der letzten Seite seines Aufsatzes ein Primat der politischen Philosophie.

Ich möchte nicht unfair sein. Wenn Abdel-Malek sich auf Gewalt beruft und diese praktisch mit Macht gleichsetzt, so kann dies eine heilsame Erinnerung sein: Wir dürfen uns nicht total auf den Weber’schen ideologisierten Macht-Begriff einlassen, welcher Macht nur mehr in der – mit Gramscis Ausdruck – Hegemonie erkennt und damit die Gewalt unterschlägt. Das wird in dieser Einseitigkeit zur Ideologie. Bei jeder Herrschaft lauert die Gewalt gleich um die Ecke. Denn die Gewalt-Ausübung ist unerlässlich zur Aufrecht-Erhaltung der Herrschaft. Aber diese Fokussierung auf die reine Gewalt beinhaltet doch wieder die seinerzeitige Apo­theose der befreienden Gewalt, vorzugsweise aus der Dritten Welt. Und damit führt uns dies in die Irre: Wir haben es in unseren eigenen Gesellschaften vor allem mit der Frage von Hegemonie und anti-hegemonialer Arbeit zu tun.

Eine zweite höchst zweifelhafte Sache ist der Orientalismus. Edward Said hat den Begriff prominent gemacht. Abdel-Malek benutzt das Wort nicht, vertritt aber solche Tendenzen. Und das führt ihn dazu, eine schiefe Darstellung der historischen Abläufe zu geben. Wenn er den Atombomben-Abwurf auf Japan gewissermaßen unter die Kreuzzüge subsumiert, dann über­sieht er: Die USA haben Japan nicht als eine „Nation des Orients“ bekämpft, sondern als eine konkurrierende imperialistische Macht. Dass schon die wilhelminischen deutschen Ideologen von der „Gelben Gefahr“ sprachen und die imperialistischen Konflikte so kulturalisierten, haben die japanischen Faschisten geradezu dankbar aufgriffen. Das ändert nichts am imperia­listischen Charakter des Krieges. Freilich, und das ist wieder ein Verdienst, und Abdel-Malek erinnert uns daran: Politische Konflikte werden fast immer unter einem kulturalistischen Deckmantel ausgetragen. Das gehört zur Ideologie des Imperialismus und zur Ideologie aller Kämpfe um die Verteilung des Mehrwerts und Profits dazu, global wie auch inner-national. Der Vorwurf des Populismus an die Linke heute sagt im Grund kaum was Anderes als: Ihr setzt Euch für Leute ein, welche nicht genug Kultur-Gehorsam haben, um Alles zu akzep­tieren, was wir, die Hohen Priester der Zivilisation, ihnen als Kultur vorschreiben.

Entscheidend aber ist etwas ganz Anderes. Gegen Ende seines kurzen Aufsatzes beschwört Abdel-Malek eine „neue Realpolitik“. Er sieht deren tragende Säule insbesondere in Self-reliance – ich bleibe beim englischen Ausdruck, weil jede deutsche Übersetzung einen Teil von dessen Semantik verliert. Darum herum müsse sich Macht-Balance aufbauen. Den zwei Supermächten USA und Sowjetunion würde dann eine Front aus der Dritten Welt mit China an der Spitze gegenüberstehen.

Dieses Konzept der Self-reliance vertreten wir weiter, nicht zuletzt auch in unserer Betonung der nationalen Ebene des Klassenkampfs und der Demokratie.

Aber: Die neue Realpolitik der reinen Machtorientierung hat dazu geführt, dass sich China zum Zentrum einer kapitalistischen Entwicklungspolitik gemacht hat, auf welche nicht wenige schlecht entwickelte Staaten der damaligen Dritten Welt mit Bewunderung hinsehen. Die BRICS stellen sich nun als jene realpolitische Front dar, „mit der überwiegenden Mehrheit der Weltbevölkerung“, welche zu den Champions des Freihandels und der neuen kapitalistischen Weltordnung geworden sind.

Hier wäre sehr viel zu sagen. Ich beschränke mich darauf, unsere eigenen Probleme in Erin­nerung zu rufen. Der Appell an Self-reliance hat immerhin auch die politische Seite, die kleineren Nationen dieser Welt und auch des Zentrums daran zu erinnern: Auch sie sind Teil jenes Gürtels der politisch Abhängigen, selbst wenn sie zum ökonomischen Zentrum gehören, welche bei einer neuen Wendung der Umstände unter die Räder kommen können. „Griechen­land“ kann auch anderen blühen. Vor allem aber: Wir können hier nicht so naiv von Ländern und Wirtschaften reden, als ob das klare Einheiten von Gewinnern oder Verlierern wären; als ob es im Inneren keine Klassen gäbe, welche deutlich Gewinner und Verlierer sind.

Eine neue Theorie des Imperialismus ist politisch ganz und gar erstrangig. Jeder Versuch dazu ist zu begrüßen, von welcher Richtung er immer kommt. Es macht nicht den geringsten Sinn, über andere herzufallen, wenn diese in ihren Bemühungen darum gegen irgendwelche State­ments aus den Heiligen Schriften der Linken verstoßen. Wenn wir auch mit der Theorie allein die Welt nicht ändern, können wir ohne Theorie jedenfalls keine zielführende Strategie diskutieren und aufbauen. Hier strafend anzumerken: Aber bei Lenin, oder sonst wo immer, steht dies anders, ist die am wenigsten fruchtbare Vorgangsweise.

 22. Juli 2018

Abdel-Malek, Anouar (1971), Ägypten. Militärgesellschaft. Das Armeeregime, die Linke und der soziale Wandel unter Nasser. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Abdel-Malek, Anouar (1979), Historical Surplus-Value. In: Review III, 1, 35 – 43.

Said, Edward (2003 [1978]), Orientalism. London: Penguin.

 

Verweise