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Marionettenregime im Irak vorerst gescheitert

3. Juni 2004

aus Intifada 16

Volksaufstand zeigt Potential des Widerstands – vereinigte Front bleibt dringendste Notwendigkeit

Bereits im Herbst 2003 dämmerte es den USA, dass der von ihnen installierte Regierungsrat (IGC) seine Aufgabe, nämlich eine glaubwürdige neokoloniale Fassade für die US-Herrschaft abzugeben oder zumindest zur Bildung einer solchen beizutragen, nicht erfüllen können würde. Für den Großteil der Iraker blieb der IGC unakzeptabel und schlicht ein willfähriges Instrument der Besatzungsmacht. Etwaige anfängliche Hoffnungen waren schnell zerstoben. Selbst ein großer Teil der sozialen Eliten, die aufgrund ihres Wunsches nach Eingliederung in die kapitalistische Weltwirtschaft zur Kollaboration neigen, lehnt den Regierungsrat ab.

Gleichzeitig hat der militärische Widerstand feste Wurzeln gefasst. Während die Besatzer öffentlich ganz im Nazi-Jargon weiter von Banditen, Kriminellen und Verbrechern sprechen, lassen sie sich von ihren Geheimdiensten berichten, dass die Unterstützung und Legitimität des bewaffneten Widerstands im Wachsen begriffen sei.

Es bedarf also seitens der Invasoren neuer, tiefgreifender politischer Maßnahmen um einerseits den Widerstand zurückzudrängen und andererseits ein irakisches Regime zu schaffen, das auf der Basis der Integration der Eliten und zumindest passiven Duldung eines Teils der Bevölkerung ihnen die indirekte Herrschaft abzusichern in der Lage wäre. Pompös wurde daher die „Machtübergabe“ für 1. Juli 2004 angekündigt. Flankierende Maßnahmen waren der Entwurf einer Verfassung und die In-Aussicht-Stellung von Wahlen.

Doch die vollmundigen Ankündigungen erwiesen sich bald als alten Wein in neuer Schläuchen. Um in einer Situation des Aufstiegs des Widerstands das Ruder herumreißen zu können, bedürfte es substantieller Zugeständnisse, die einen gewichtigen Teil der Eliten zur Kollaboration bewegen können. Da die USA diese kategorisch verweigern, kann jetzt schon gesagt werden, dass der Schuss nach hinten los gehen und nur noch mehr Wasser auf die Mühlen des Widerstands leiten wird.

Übertragung der Souveränität eine Farce

Der teils von US-Juristen geschriebene Verfassungsentwurf wurde selbst vom IGC nur kühl aufgenommen. Letztlich wurde in allen wichtigen Punkten der status quo fixiert, so dass die für den 1. Juli geplante „Übergabe der Souveränität“ schon jetzt als Farce erkennbar ist. Es handelt sich schlicht um die Umbenennung des IGC.

Ursprünglich hatten die USA vorgesehen, den IGC ein „Status of Forces Agreement“ unterzeichnen zu lassen, wie sie es mit vielen von ihnen abhängigen Dritte-Welt-Staaten unterhalten. Darin spricht üblicherweise das Dritte-Welt-Land die Einladung an die US-Streikräfte aus, im Land Stellung zu beziehen und zu operieren. Die Ratifikation diese Abkommens war zur Bedingung des Inkrafttretens der Übergangsverfassung und der „Machtübergabe“ gemacht worden. Doch selbst der von den USA handverlesene Regierungsrat verweigerte sich. So musste in die Verfassung ein Passus aufgenommen werden, der die irakischen Streitkräfte unter das direkte Kommando der USA stellt – ein offen koloniales Prärogativ.

Auch hinsichtlich der Regelung des Status der Kurden mussten die USA zurückstecken. Da die gegenwärtige Kurdenführung ihr einzig treuer Verbündeter bleibt, der über Rückhalt in der eigenen Bevölkerung verfügt, versuchten sie ihr möglichst weit entgegenzukommen, ohne dabei die Türkei zu verprellen. Dagegen wehrte sich der IGC. Zwar wurde ein föderales System festgeschrieben, das ohne konkrete Regelungen jedoch toter Buchstabe bleiben wird.

Die in Aussicht gestellten Wahlen bleiben indes das wichtigste Instrument zur Legitimierung eines Pro-US-Regimes. Doch Washington weiß nur zu gut, dass selbst bei massiven Manipulationen nach dem Vorbild der von ihnen mit dem Prädikat „Demokratie“ ausgestatteten lateinamerikanischen autoritären Regime, die pro-amerikanischen Kräfte einer sicheren Niederlage entgegengehen.

Im ursprünglichen Verfassungsentwurf war noch ein Modus enthalten, der diese Quadratur des Kreises bewerkstelligen sollte. Gut kontrollierte lokale Körperschaften („caucuses“), oft nach ethnizistischen Gesichtspunkten zusammengestellt, sollten Wahlmänner bestimmen. Einem von ihnen gewählten nationalen Gremium wäre es dann oblegen, ein Wahlgesetz zu verabschieden. Mittels eines gehörigen Aufschubs bis in das Jahr 2005 erhoffte sich Washington genug Zeit herausgeschunden zu haben, um die notwenigen Manipulationen durchführen zu können.

Doch dagegen rief im Januar 2004 der bedeutende schiitische Kleriker, Ayatollah al-Sistani, zu Protestdemonstrationen für baldige freie Wahlen auf. Dem Aufruf leitsteten Hunderttausende Folge. Das bedeutet keineswegs, dass der Klerus zum Widerstand übergegangen wäre. Im Gegenteil, solange Wahlen unter militärischer Besatzung stattfinden, können sie niemals frei sein. Für al-Sistani und seine Umgebung ging es neben einem Schuss vor den Bug der Besatzer gleichzeitig auch darum, dem Widerstand die einzig wirksame Forderung, nämlich die nach sofortigen allgemeinen und gleichen Wahlen, entgegenzusetzen.

Dieser Zug der Hauptströmung des schiitischen Klerus ist aber keineswegs als Absage an die Kollaboration zu verstehen. Es geht ausschließlich um den Preis ihrer Einbindung, namentlich darum, welche Rolle die schiitische Geistlichenkaste im zukünftigen politischen System wird spielen dürfen. Das Dilemma der USA ist es, dass sie nicht einmal auf diese Minimalbedingungen eingehen wollen und können. Ohne substantielle Zugeständnisse an die Eliten jedoch, sei es nun eine neu zusammengesetzte Elite unter Einschluss des Klerus oder jene alte aus sunnitischen Honoratioren oder auch der Versuch diese beiden nach einem ethnizistischen Modell gegeneinander zu stellen und als Vermittler weiterhin eine Rolle zu behalten, erscheinen die amerikanischen Bemühungen vergebens. Somit untergräbt die Hartnäckigkeit Washingtons die eigenen verzweifelten Anstrengungen von der direkten kolonialen zu einer indirekten Herrschaft zu gelangen.

Volksaufstand mit zwei Brennpunkten

Flankierend zu den Integrationsversuchen musste es Ziel der Besatzer sein, den Hauptkräften des Widerstands noch vor der „Machtübertragung“ den Kopf abzuschlagen, um sie als politische Alternative gar nicht aufkommen zu lassen.

Obwohl sich Falludscha von den anderen Städten am oberen Euphrat nicht wesentlich unterscheidet, war es in den letzten Monaten zum Symbol des Widerstands geworden. Die Besatzer hatten sich aus der Stadt zurückgezogen und getrauten sich nur mehr sie am Tag zu Patrouillenfahren zu betreten. Hier hatte die US-Armee besonders viele demütigende Verluste einstecken müssen.

Als im Frühling vier amerikanische Söldner getötet und ihre Leichen von der wütenden Bevölkerung geschändet wurden, nahmen die Okkupanten dies zum Anlass, einen Generalangriff auf den Widerstand zu unternehmen. Um die Stadt wurde ein Belagerungsring gelegt, der auch darauf abzielte, die Zivilbevölkerung, die den Widerstand fast vollständig unterstützt, zu bestrafen. Tagelang war die Versorgung mit Lebensmitteln und sogar Wasser unterbrochen. Mit schwerer Artillerie, Kampfhubschraubern und -flugzeugen, denen auf Seiten der Verteidiger nichts vergleichbares gegenüber stand, wurden ganze Viertel in Schutt und Asche gelegt. Verschiedenen Quellen zufolge, dürften dabei rund tausend Menschen, davon die übergroße Mehrzahl Zivilisten, ums Leben gekommen sein. Selbst Spitäler und Moscheen wurden attackiert.

Indes vermieden es die Besatzer tunlichst in einen wirklichen städtischen Partisanenkampf, wie er der israelischen Armee in Beirut in den 80er Jahren ihre bisher schwerste Niederlage zufügte, verwickelt zu werden. Der Widerstand hat in Falludscha ein bisher nicht gekanntes Niveau erreicht. Von der städtischen Guerilla vollzog sich der Übergang zu einem regelrechten Volkskrieg, der breite Teile der Bevölkerung direkt einbezog. Partisanen und Volksaufstand flossen zusammen und übernahmen für einige Wochen die Kontrolle über die Stadt, die die Besatzer verlassen hatten. Sowohl aus militärischen aber vor allem aus politischen Gründen konnten die USA trotz drückender militärischer Überlegenheit den intendierten vernichtenden Schlag nicht führen. Als sich eine Verhandlungslösung abzeichnete, gelang es laut Aussagen von Jabbar al-Kubaysi, dem Führer der Irakischen Patriotischen Allianz (IPA), schließlich einem Teil der Kämpfer samt ihrer Waffen die Stadt rechtzeitig zu verlassen.

Dass die USA schließlich den Belagerungsring aufhoben und die militärische Kontrolle einer von den Besatzern finanzierten „Falludscha-Armee“ übertrugen, muss jedenfalls als Teilerfolg der Resistance gewertet werden. Noch ist über das Profil der Falluscha-Armee nicht viel bekannt. Folgende Episode illustriert jedoch das Spannungsfeld, in dem sie geschaffen wurde. Ihr erster Kommandant, Jassim Saleh, zeigte sich bei Amtsantritt in der Generalsuniform der ehemaligen baathistischen Armee. Schon vier Tage später wurde er durch Mohammed Latif ausgetauscht, der den Rang eines Generalmajors bekleidete. (1) Unter den gegebenen Kräfteverhältnissen kann davon ausgegangen werden, dass diese Armee weder in der Lage noch willens ist, gegen den Widerstand vorzugehen und ihn zu entwaffnen. Selbst die irakischen Hilfstruppen der Amerikaner weigerten sich gegen Falludscha vorzugehen. Ein Exempel zu statuieren, gelang den Besatzern jedenfalls nicht.

Die zukünftige Rolle der Falludscha-Armee bleibt von der Entwicklung der Kräfteverhältnisse abhängig. In die eine oder andere Richtung muss sich das Patt lösen. Wächst der Widerstand weiter und verbreitert er seinen politischen Einfluss, dann wird die Armee zumindest teilweise mit ihm sympathisieren und gegen ihn uneinsetzbar bleiben. Gelingen hingegen den USA Schritte zur Stabilisierung, so könnte die Falludscha-Armee das Signal zur Einbindung der ehemaligen baathistischen Militärs bedeuten, die so dem Widerstand entzogen würden.

Zweiter Brennpunkt des Volksaufstandes war die Bewegung um den schiitischen Kleriker Muqtada al-Sadr. Auch hier entsprang die Eskalation einer kalkulierten Provokation der Besatzer. Sie verboten die Zeitung al-Sadrs. Protestdemonstrationen endeten in einem Blutbad. So zwangen sie al-Sadr entweder klein beizugeben und sich unterzuordnen oder aber zum Aufstand zu rufen. Er tat letzteres.

In zahlreichen Städten des Südens und vor allem auch in den Bagdader Armenviertel Madinat al-Sadr vertrieben die Madi-Milizen Sadrs die von den Besatzern eingesetzten Behörden. Rathäuser wurden besetzt und neue Bürgermeister ernannt.

Bemerkenswert war die politische Dynamik, die der Aufstand auslöste. Während das schiitische städtische Subproletariat als die Hausmacht al-Sadrs gilt, beteiligten sich unterschiedlichen Berichten zufolge auch die städtischen Mittelschichten am Aufstand. Durch die Parallelität mit der Verteidigung Falludschas nahm die Bewegung schließlich auch einen deutlich überkonfessionellen Charakter an. So wurden von schiitischen und sunnitischen Würdenträgern unter aktiver Beteiligung der Bevölkerung Hilfslieferungen für die Bevölkerung der belagerten Stadt zusammengestellt. Ein ziviler „Entsatzmarsch“ zu Fuß wurde von der US-Armee durchgelassen – scheinbar um eine weitere Radikalisierung der Stimmung zu vermeiden. Der von den USA intendierten Schaffung einer schiitischen und einer sunnitischen „Ethnie“, die nach dem althergebrachten Verfahren des Teile-und-Herrsche gegeneinander gestellt werden sollen, steht die Tendenz der nationalen Vereinigung gegen die Besatzung entgegen.

Militärisch erweist sich die Madi-Armee jedoch den Anforderungen kaum gewachsen. Im Gegensatz zur sunnitischen Guerilla, die sich vielfach aus ehemaligen Armeeangehörigen aller Ränge zusammensetzt und militärisch professionell vorgeht, handelt es sich um kaum ausgebildete Milizionäre, die einen entsprechend hohen Blutzoll zu zahlen gezwungen sind.

Mittlerweile konnten die USA viele Stadtverwaltungen wieder zurückerobern, auch wenn es nach wie vor zu bewaffneten Auseinandersetzungen und selbst zu Offensiven der Kämpfer al-Sadrs kommt. Es ist damit zu rechnen, dass der ausklingende Aufstand ganz niedergeschlagen werden wird. Doch eines der Ergebnis des Aufstandes ist, dass al-Sadr mehrfach seine Anhänger aufgefordert hat die Besatzer anzugreifen, das heißt zum Guerillakrieg überzugehen. Seither kommt es nun auch in den schiitischen Gebieten immer wieder zu Hinterhalten und Attacken auf die Besatzungstruppen. De facto erweiterte sich die Rà©sistance um eine schiitische Komponente.

Die Rolle Muqtada al-Sadrs bleibt jedoch zwiespältig. Einerseits steht er unter dem Druck der städtischen Armut, die in den Kampf gegen die Besatzer eintreten will. Andererseits bleibt er Teil des Klerus und vermittels dieses auch unter Druck Teherans. Der Klerus hat deutlich gemacht, dass er sich mit den USA auf eine neokoloniale Lösung einigen könnte, wenn in deren Rahmen seine Ansprüche erfüllt würden. Ihrerseits ist auch die Islamische Republik auf einen Ausgleich mit den USA aus. Bei einem Angebot seitens der Invasoren kann also ein Rückzieher al-Sadrs nie ausgeschlossen werden. Ein systematischer und konsequenter Widerstand darf von der al-Sadr-Führung daher nicht erwartet werden.

Abschließend betrachtet war zwar beiden parallelen Aufstandsbewegungen letztendlich nicht der volle Erfolg beschieden, doch die amerikanischen Pläne vor der „Machtübergabe“ mit dem Widerstand tabula rasa zu machen, endeten in einem völligen Fiasko. Der Widerstand geht als Sieger nach Punkten aus diesem von Washington provozierten Konflikt hervor. Es scheint angezeigt von einer gelungenen Generalprobe des Aufstands zu sprechen. Dem irakischen Volk, der Welt und den Besatzern wurde deutlich gemacht, welches Potential ein von einer vereinigten Widerstandsfront geführter kombinierter Volkskrieg und -aufstand zu entfalten in der Lage ist.

Selbst die USA mussten angesichts dieser Ereignisse eingestehen, dass die Souveränität des von ihnen eingesetzten Regimes nur äußerst begrenzt sein wird. Gemessen am politischen Zweck der Operation, nämlich einem Marionettenregime Legitimität zu verschaffen und relevante Teile der Eliten und ihres Anhangs zu beteiligen, kann diese bereits im Vornherein als gescheitert betrachtet werden.

Abzug Spaniens

Auf internationaler Ebene gelang es den Vereinigten Staaten nach wie vor nicht, die Zustimmung der wichtigsten imperialistischen Staaten und damit der UNO zu erlangen. Im Gegenteil, mit dem Rückzug Spaniens und einiger kleinerer Länder aus der Koalition der Besatzer verstärkte sich die Isolation der Supermacht sogar noch.

Die öffentliche Meinung im Westen wendet sich zunehmend gegen die Besatzung. Bester Anzeiger dafür scheint der Skandal um Folterungen und Misshandlungen von gefangenen Irakern. Aus den Erfahrungen früherer US-Interventionen weiß man, dass solche Grausamkeiten zum üblichen Repertoire der US-Streitkräfte und noch mehr ihrer Handlanger gehören. Man konnte also mit Sicherheit davon ausgehen, dass dies sich auch im Irak zutragen würde, zumal in den USA immer offener die Folter als Mittel in ihrem „Krieg gegen den Terror“ rehabilitiert wird. Als Modell kann das Lager auf dem US-Marinestützpunkt Guantánamo gelten. Bemerkenswert ist vielmehr, dass die US-Medien selbst, die sich bis vor kurzen vollständig der patriotischen Selbstzensur unterwarfen, nun darüber berichten. Das deutet nicht nur auf Meinungsverschiedenheiten im Machtappparat selbst hin, sondern reflektiert die veränderte öffentliche Meinung, die danach verlangt.

Die Stärke des Widerstands und die internationale Isolation der USA hinsichtlich der Legitimierung ihres Besatzungsregimes sind mit einander verknüpft und bedingen sich. Derzeit scheint sowohl auf irakischer als auch auf internationaler Ebene die Situation für den Widerstand günstig, denn die USA können sich kein Abrücken von ihrer aggressiven, unilateralen Linie leisten.

Der Versuch ein American Empire zu errichten ist über die Besatzung des Iraks unzweifelhaft in Schwierigkeiten geraten. Die Falken im Washington fordern mit ihrem permanenten und präventiven Krieg den Widerstand richtiggehend heraus. Sie vertiefen und verschärfen die globale Widersprüche und treiben die Eskalation der Konflikte weiter voran. Eine Lösung würde ein Abrücken vom alleinigen Machtanspruch erfordern und damit den Anfang vom Ende des Empires nach sich ziehen.

UNO keine Lösung

Der einzig gangbare Weg ein stabiles und international anerkanntes abhängiges neokoloniales Regime in Bagdad zu schaffen, scheint über substantielle Zugeständnisse an die irakischen Eliten und die Einbindung der anderen imperialistischen Staaten zu führen. Für Washington würde dies das offene Eingestehen einer Niederlage bedeuten – unter den heutigen Bedingungen eine undenkbare Vorstellung.

Um was sich die Vereinigten Staaten aber weiterhin unentwegt bemühen, ist die teilweise Absegnung ihrer Pläne durch die UNO. So setzen sie Generalsekretär Kofi Annan und auch den Sondergesandten Lahkdar Brahimi für ihre Pläne im Irak ein, ohne dass die UN-Institutionen dazu ihre Zustimmung gegeben hätten. Brahimi versucht zur Zeit ein möglichst glaubwürdiges Übergangskabinett aus „Technokraten“ zusammenzustellen, um die Farce der „Machtübertragung“ doch noch inszenieren zu können.

In der traditionellen Friedens- sowie der Antiglobalisierungsbewegung setzen viele auf eine UN-Lösung. Abgesehen davon, dass eine solche Lösung angesichts der US-amerikanischen Machtbestrebungen utopisch und illusionär erscheint, würde sie auch keineswegs die legitimen Bestrebungen des irakischen Volkes nach Selbstbestimmung erfüllen. Denn den anderen imperialistischen Staaten geht es keineswegs darum, die volle nationale Souveränität, geschweige denn die Souveränität der breiten Volksmassen des Iraks herzustellen, sondern einzig selbst einen Teil des Kuchens abzubekommen und sich nicht völlig den USA unterwerfen zu müssen. Unter der Fuchtel des Westens, also politisch und wirtschaftlich abhängig, soll der Irak in jedem Fall bleiben.

Darum muss nicht nur die Einmischung der USA und ihrer Verbündeter, sondern auch die der UNO abgelehnt werden. Denn letztlich vertritt auch die UNO die Interessen der imperialistischen Länder, woran auch die Tatsache, das diese in der jüngeren Vergangenheit zunehmend versucht haben, die UNO zu sabotieren, wann immer sie ihnen nicht gefügig genug erschien.

Vereinigte Widerstandsfront und verfassungsgebende Versammlung

Demokratische Selbstbestimmung, die diesen Namen verdient, setzt den bedingungslosen Abzug sämtlicher Besatzungstruppen voraus. Die Kraft, die einzig dies zu bewerkstelligen in der Lage sein kann, ist heute der Widerstand des irakischen Volkes. Unter den bestehenden globalen Kräfteverhältnissen, wo es keine gewichtige staatliche Macht gibt, die den Widerstand unterstützen würde, kann sein Sieg nur unter einer langfristigen Perspektive konzipiert werden. Ohne Erschütterung des regionalen und internationalen Systems ist er ebenso undenkbar, wie ohne massive Solidarität aus dem Westen nach dem Vorbild der Bewegung gegen den Vietnamkrieg.

Wesentliche Voraussetzung ist in jedem Fall die Bildung einer politischen Alternative zur Besatzungsmacht und ihrer verschiedenen Versuche Marionettenregime zu schaffen. Der militärische Widerstand ist die konkrete Grundvoraussetzung der Befreiungsfront, reicht aber für eine tatsächliche Einigung der Widerstandsbewegung nicht aus. Dazu bedarf es einer vereinigten politischen Front aller Kräfte, die für den bedingungslosen Abzug der Besatzungstruppen kämpfen.

Es ist unvermeidlich, dass es zwischen den Komponenten der Rà©sistance politische, kulturelle und religiöse Unterschiede und Widersprüche gibt. Bisher konnten diese Differenzen, die die Bildung der politischen Front behindern, scheinbar noch nicht aus dem Weg geräumt werden, obwohl es auf der Ebene der Massenbewegung starke Tendenzen der Vereinigung gibt.

Innerhalb der sunnitischen Kreise des Widerstands verfließen zwar die Grenzen zwischen nationalistischen und islamischen Kräften. Dies scheint dem baathistischen Führungsanspruch aber keinen Abbruch zu tun, der seine Kraft daraus bezieht, dass der militärische Widerstand vielfach von ehemaligen Armeeangehörigen geführt wird. Dies stößt mit dem ebenso alleinigen Führungsanspruch der Bewegung um Muqtada al-Sadr zusammen, der zwar erst zuletzt in den Widerstand eingetreten ist, dennoch aber die schiitische Bevölkerungsmehrheit ansprechen kann. Was die schwachen linken und kommunistischen Kräfte betrifft, die sich von der kollaborationistischen IKP (Irakische Kommunistische Partei) losgesagt haben, so verweigern auch diese oftmals die Zusammenarbeit mit Baathisten. Das gilt namentlich für die bedeutendste Kraft, die IKP (Zentralkommando).

Zwar sind sich die Kräfte des Widerstands darüber einig, dass die Besatzer verschwinden müssen, aber die Schwierigkeiten entstehen über der Frage nach der politischen Alternative, die notwendig die gesellschaftlichen Zielvorstellungen mit einschließt. Das einzig wirklich vereinigende Ziel, nicht nur hinsichtlich der organisierten Kräfte sondern auch bezüglich der breiten Volksmassen, kann nur eine verfassungsgebende Nationalversammlung sein, mittels derer das Volk seine Souveränität ausübt. Dass diese Forderung bisher keine nennenswerte Rolle gespielt hat, scheint kein Zufall zu sein. Im sunnitischen Widerstand, dem der ganze gesellschaftliche Schichtenbau angehört, spielen die traditionellen Eliten eine wichtige Rolle. Eine Konstituante würde ihre Rolle aber stark beschneiden. Der schiitische Widerstand wiederum stützt sich zwar viel klarer auf die Unterschichten und das Subproletariat, doch ist der politische Führungsanspruch der Geistlichen noch exklusiver. Auch in diesem Fall neigt eine verfassungsgebende Nationalversammlung dazu, die Rolle des Klerus zu schmälern, auch wenn dieser Zusammenhang keineswegs automatisch besteht. Was wiederum die Linke betrifft, so kokettiert diese mit Wahlen, die unter UN-Aufsicht stattfinden könnten. Denn sie verfügen kaum selbst über bewaffnete Kräfte, die als einzige die Voraussetzungen zur Einberufung einer Konstituante schaffen können.

Die verfassungsgebende Nationalversammlung ist also das Projekt, um das sich allein eine vereinigte Front des Widerstands bilden und eine echte politische Alternative zu den früher oder später stattfindenden, von den USA inszenierten Wahlen bieten kann. Sie unterdrückt keineswegs die politische, kulturelle und religiöse Vielfalt des irakischen Volkes, bremst aber durchaus vorhandene partikularistische Ansätze, wie der Herrschaftsanspruch des schiitischen Klerus oder der traditionellen sunnitischen Elite. Sie schiebt ebenso den amerikanischen Bestrebungen einen Riegel vor, die Religionsgemeinschaften der Schiiten und Sunniten zu Ethnien und damit zu staatskonstitutiven politischen Entitäten zu erheben, die im ständigen Widerspruch zu einander stehen und damit eines Vermittlers bedürfen – eine Rolle, die sich die USA selber zudenken und damit ihren bestimmenden Einfluss zu bewahren erhoffen.

Vielfach wird eingewandt, dass es nicht möglich sei ein westliches Modell auf den Irak anzuwenden. Vielmehr bedürfte es einer in der arabischen Tradition verankerten Variante der Staatsbildung, zum Beispiel einer irakischen Loya Jirga. Doch die afghanische Loya Jirga diente ganz klar westlichen Zwecken. Die traditionelle Elite, deren Versagen letztlich der Auslöser des Bürgerkrieges war, sollte zusammengeschlossen und an die Macht gehievt werden – unter Ausschluss der Volksmassen. Dass die arabischen sozialen und traditionellen Eliten zur Kollaboration mit dem Imperialismus bereit sind, zeigt sich allerorts, insbesondere in Saudi-Arabien. Zwischen Bewahrung der Tradition, auch der reaktionärsten, und Eingliederung in den Weltmarkt besteht kein Widerspruch. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass dies auch für die irakischen Eliten gilt. Die Geschichte selbst belegt das vielfach. Derzeit wird eine solche Kollaboration zwar durch den Anspruch des American Empire, den Irak auf eine Provinz zu reduzieren, hintangehalten, aber die Besatzungsmacht arbeiten mit Hochdruck an einer sowohl für sie als auch für die Eliten gangbaren Variante.

Die verfassungsgebende Nationalversammlung erlangt ihren universellen Charakter durch die Universalität des Kapitalismus und Imperialismus. Der Weltmarkt durchdringt auch den abgelegensten Winkel dieser Erde und transferiert Wert in die kapitalistischen Metropolen. Der Imperialismus organisiert die politisch-militärischen Bedingungen, dass diese systematische Ausbeutung von statten gehen kann. Die so dem Weltmarkt ausgesetzten Völker finden in der nationalen Souveränität die unabdingbare Voraussetzung diesen Werttransfer zu unterbrechen oder zumindest zu begrenzen. Nachdem die Eliten meist von der Einbindung in den Weltmarkt profitieren, bleibt es den Volksmassen, den Unterklassen, diese Souveränität zu erkämpfen, deren wirkungsvollstes Instrument eine verfassungsgebende Nationalversammlung ist.

Klassenkampf im Irak?

Unter den spärlich gesäten Kräften im Westen, die den Widerstand unterstützen, wird oft der Einwand erhoben, der Klassenkampf im Irak nicht vernachlässigt werden darf, da sonst die Unterstützung auf eine Front mit der Bourgeoisie und den sozialen Eliten hinauslaufen würde.

Hier handelt es sich um schablonenhafte und dogmatische Anwendung marxistischer Kategorien. Grundfehler dieser Betrachtungsweise ist es zu übersehen, dass der irakische Befreiungskampf in der Substanz ein Klassenkampf ist. Die irakischen Volksmassen kämpfen gegen die imperialistische Bourgeoisie, die mit ihrem direktesten Instrument, ihrer Armee, gegen ihre Bestrebung nach Selbstbestimmung vorgeht.

Der Kampf um unmittelbare soziale Interessen ist nur eine mögliche Form des politischen Klassenkampfes, der oft genug zum Kampf um Partikularinteressen im Rahmen der kapitalistischen Ordnung verkommt. Diesen zum Modell auch für die gegenwärtige Situation im Irak zu erheben bedeuten nicht nur eine krasse Form von Ökonomismus, sondern verfängt sich auch im Eurozentrismus.

Im Unterschied zu anderen nationalen Befreiungskämpfen beteiligen sich die Überreste der Bourgeoisie und Teile der sozialen Eliten an diesem Befreiungskampf. Das ist den besonderen Umständen im Irak geschuldet, nämlich einerseits der Vorgeschichte, die den weitgehenden Ausschluss der Eliten aus dem imperialistischen System mit sich brachten, und andererseits die direkte koloniale Besatzung, die in der jüngeren Geschichte keinen Präzedenzfall kennt.

Die einzige Chance der USA die Lage unter Kontrolle zu bekommen besteht im Ausgleich mit der ehemals herrschenden Klasse. Daraus resultiert gleichzeitig auch die größte Gefahr für den Widerstand.

Für die Erlangung tatsächlicher Souveränität des Volkes wäre ein solches Abkommen, das sich in einem stabilisierten Marionettenregime niederschlagen würde, verheerend. Der anhaltende militärische Widerstand ist derzeit die größte Barriere gegen ein solches Abkommen. Langfristig und wirklich entscheidend ist allerdings die Bildung einer politischen Front für eine konstituierende Nationalversammlung, die einen solchen Verrat von vornherein ausschließt – insofern als die Verwirklichung der Forderung den vollständigen Truppenabzug voraussetzt und andererseits den Volksmassen die Macht in die Hand legt. Den Eliten, die heute auch die zwei Zentren des Widerstands bilden, wird damit die Möglichkeit zu Separatabkommen, zur Kollaboration genommen.

Mit der Herausbildung der politischen Widerstandsfront auf der Basis der Konstituante könnte sich ein neues Zentrum, eine neue Führung etablieren, die über eine organische Verbindung mit den Unterklassen verfügt und sich auf diese stützt.

Der Klassenkampf im Irak muss sich heute in erster Linie auf die Frage der verfassungsgebenden Nationalversammlung konzentrieren. Die sozialen Eliten, die rudimentäre Bourgeoisie tritt dieser mit einer natürlichen Skepsis gegenüber, weil sie spürt, dass sie ihren Führungsanspruch bedroht. Durch die Bildung der Front können die bürgerlichen Kräfte zurückgedrängt, geschwächt und isoliert und gleichzeitig eine neue Führung der Unterklassen herausgebildet werden, die nicht nur auf die nationale Unabhängigkeit, sondern auf die soziale Gerechtigkeit zielt.

Auf diesem Weg ist der Wiederaufbau einer bewusst und ausdrücklich antikapitalistischen Kraft denkbar. Allein von den unmittelbaren sozialen Forderungen der städtischen Armut, der Reste des Proletariats und der Bauernschaft auszugehen, während sich, für jeden sichtbar, alles um die Besatzung und nationale Selbstbestimmung dreht, ist hingegen nicht möglich. Diese Forderungen dürfen dem nationalen Befreiungskampf nicht als Alternative gegenübergestellt, sondern müssen als dessen integraler Bestandteil verstanden werden.

Der Wiederaufbau einer kommunistischen Bewegung im Irak hat ein schweres Erbe zu überwinden, nämlich den systematischen Verrat der Irakischen Kommunistischen Partei, die zu einem Instrument des amerikanischen Imperialismus geworden ist. Die neuen Pioniere der Bewegung müssen sich als beste Kämpfer gegen die Besatzung erweisen um überhaupt das Tor zu einem kommunistischen Neubeginn wieder aufstoßen zu können.

Derzeit erscheint nämlich der Islam – so unbestimmt und so utopisch seine gesellschaftlichen Vorstellungen auch sein mögen – den Volksmassen als einzige Alternative zum Imperialismus. Der Kommunismus kann nur in Anknüpfung an und nicht in Gegenüberstellung zu den islamischen Stimmungen neu entfaltet werden.

Willi Langthaler
Mitte Mai 2004

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