Zu den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei
aus der demnächst erscheinenden Ausgabe der Bruchlinien
Der Beginn der Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei hat vor allem in den deutschsprachigen Medien und seitens eines Teils der politischen Kaste eine Welle von chauvinistischen Reaktionen ausgelöst. Dabei schlagen sie in die Kerbe des Kriegs der Kulturen. Der Islam wird verteufelt und als gefährlich dargestellt. Eine neue Türkenbelagerung wird heraufbeschworen.
Gleichzeitig bleibt es eine Tatsache, dass die entscheidenden Kräfte der herrschenden Klassen in Europa eindeutig für den Beitritt der Türkei sind, auch wenn eventuell mit eingeschränkten Rechten. Das gilt noch mehr für den Großen Bruder in Übersee, der in diese Richtung schon seit geraumer Zeit Druck macht.
Das Gerede von den europäischen Werten und der Demokratie erweist sich dabei als eine der größten Gegenwartslügen, so wie der serbische Völkermord oder die Massenvernichtungswaffen Saddams. Denn in der Türkei herrscht trotz aller Transformationen in der Substanz noch immer das mit dem Nato-unterstützten Putsch von 1980 an die Macht gekommene Militärregime, das gemeinsam mit Israel der wichtigste Vertreter imperialistischer Interessen in der Region ist.
Ingesamt geht es um Kosmetik, wobei dem türkischen prowestlichen Regime schon im Voraus eine Generalabsolution hinsichtlich vermeintlicher europäischer Werte erteilt wird – jedoch nicht ohne diese als Druckmittel für die eigenen Interessen als Rute im Fenster zu halten. Diese Farce wird von einer Tragödie begleitet, nämlich der der Linken, die das alles mit trägt und sich als Motor des Beitritts als Kolonialismus sui generis betätigt.
Big Business für den Beitritt
Hinsichtlich der Position der Kapitalvertreter kann es keine Zweifel geben. Sie sind uneingeschränkt für den Beitritt der Türkei, wodurch sich ihr Wirtschafts- und damit auch Akkumulationsraum nicht nur erheblich vergrößern, sondern auch um einen Brückenkopf in den Nahen Osten, Zentralasien und die kaukasische Region erweitern würde.
Was die Parteien des europäischen Mainstreams – ob nun links- oder rechtsliberalistisch – betrifft, so teilen sie diese Haltung, auch wenn sie auf die Bedenken der europäischen Bevölkerung stärker eingehen müssen. Das gilt sowohl für den Arbeitsmarkt als auch den Kulturchauvinismus.
Sie reflektieren auch die ernsthaften institutionellen Probleme, die sich mit der Türkei auftun – zumindest aus der geopolitischen Perspektive der europäischen Eliten. Das veranlasste Bundeskanzler Wolfgang Schüssel, der grundsätzlich natürlich auch für den Beitritt ist, zu der Aussage, dass es zwischen Vollmitgliedschaft und Nichtmitgliedschaft noch etwas geben müsse. Denn man will der Türkei keineswegs die Förderungen zukommen lassen, die Spanien und Portugal noch im vollen Ausmaß zuteil wurden und die die osteuropäischen Beitrittsländer nun – wenn auch in einem qualitativ geringeren Ausmaß – genießen. Besonders im Agrarsektor kann ausgeschlossen werden, dass die Türkei nach den gleichen Kriterien behandelt werden wird. Denn das würde Mittel erfordern, die die EU nicht aufwenden will.
Die volle Integration der Türkei in die EU-Strukturen, so wie sie heute bestehen, würden die kapitalistisch-imperialistischen Zentralmächte institutionell noch weiter schwächen. Obwohl man eine qualitative Zentralisierung, wie sie von Deutschland und Frankreich angestrebt worden waren, bereits als hoffnungslos aufgegeben zu haben scheint, würde man einen weiteren Einflussverlust durch eine etwaige Vollmitgliedschaft Ankaras dennoch wohl gerne mit einem weit reichenden Assoziationsvertrag verhindern wollen.
Interessenskoinzidenz EU-USA
Nicht nur viele Türken meinen, dass ein EU-Beitritt ihres Landes die Umarmung durch Washington etwas lockern und gleichzeitig auch die Selbständigkeit der EU fördern würde. Doch das ist weit gefehlt.
Die USA haben mehrfach ihre Unterstützung eines türkischen Beitritts bekundet. Aus ihrer Sicht muss das gleich aus mehreren Gründen als vorteilhaft erscheinen. Einerseits meinen sie mit der Türkei ein trojanisches Pferd in der EU zu haben, falls sich diese trotz aller Schwierigkeiten von den USA abzusetzen versuchen sollten. Denn die türkische Armee, die weiterhin das Zentrum der Macht stellen wird, bleibt fest in amerikanischer Hand. Die Generäle wissen nur zu gut, dass sie ihre Rolle einzig und allein den USA verdanken und dass die EU diese in keiner Weise zu ersetzen in der Lage wäre. Andererseits wird wohl auch Washington aufgefallen sein, dass das türkische Regime sich in einer historischen Krise befindet und seiner Unterstützung aus dem Volk gänzlich verlustig zu gehen droht. Der sich auch in der Türkei entwickelnde politische Islam, wird im Zuge des permanenten Krieges als Gefahr wahrgenommen, auch wenn eine Kooperation mit seinen konservativen Strömungen als notwendiges Übel hingenommen wird. In dieser Situation erscheint die Unterstützung durch und Integration in die EU, die in der Bevölkerung einige Hoffungen zu mobilisieren vermag, als Rettung und Stärkung des Regimes, zu der es keine Alternative gibt.
Das Gefasel von Demokratie und Menschenrechten
Die EU gefällt sich als Hüterin europäischer Werte aufzutreten, insbesondere gegenüber der Türkei. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass das heutige Regime in Ankara in direkter Kontinuität zu den Putschisten um General Evren steht. Der blutige Coup d´etat von 1980, der die Linke vernichtete und 10.000en das Leben kostete, wurde von der Nato und damit den zentralen Mächten der EU unterstützt. Die mit der Armee untrennbar verwobene Oligarchie sitzt seit damals fest im Sattel. Um nichts anderes als die Absicherung ihrer Macht geht es der EU, diesmal statt mit Panzern und Folterkellern mit demokratischer Kosmetik.
Eines der augenfälligsten Probleme bleibt die Unterdrückung der Kurden, die zwischen einem Drittel und einem Viertel der Bevölkerung der Türkei stellen. Ihre Forderung nach nationaler Selbstbestimmung wurde von der Armee mit äußerste Härte niedergeschlagen. Die EU trug und trägt das mit. Insbesondere die BRD tat sich in der Verfolgung der PKK hervor. Allein schon mit einer kurdischen Fahne macht man sich in diesem vermeintlichen Rechtsstaat strafbar.
Nun wird seitens Brüssels Minderheitenschutz verlangt, was zum Ende des Verbots der kurdischen Sprache führte und erste kurdische Publikationen ermöglichte. Kosmetik bleiben die zaghaften Reformen deswegen, weil es weder eine territoriale Autonomie, geschweige denn das volle Recht auf Selbstbestimmung geben wird. Das würde gegen die als heilig verehrten Prinzipien des Kemalismus verstoßen, die nach wie vor die die Elite zusammenhält. Insbesondere am Fall der Basken hat die EU vorexerziert, dass sie kein Problem damit hat, wenn der Ruf nach Selbstbestimmung mit Waffengewalt niedergeschlagen wird.
Augenfällig bleibt auch weiterhin das Problem der tausenden politischen Gefangenen. Verbunden mit der Kapitulation der PKK wurden zwar von den ehemals mehr als 10.000 Meinungshäftlingen einige Tausend freigelassen. Doch sind die Verbleibenden, die zudem noch immer gefoltert werden, allemal genug. Dabei handelt es sich vor allem um revolutionäre Linke, aber auch um Kurden. Die fortgesetzte Repression gegen die revolutionären Gruppen, die sehr summarisch vorgeht und auch legale Aktivitäten großflächig kriminalisiert, zeigt, wie sehr es sich bei den Menschenrechten um Phrasen handelt. Die EU hat Ankara schon bestätigt, dass es keine systematische Folter gäbe und dass sie sich auf dem richtigen Weg befänden. Dass es erst in diesem Jahr wieder zu politischen Massenverhaftungen und entsprechenden Prozessen wegen Meinungsdelikten gekommen ist, davon wird keine Notiz genommen. Dass sich das auch nicht zu ändern braucht, zeigt wiederum das spanische Beispiel, wo es hunderte Häftlinge gibt, die nicht wegen individueller Straftaten, sondern Meinungen einsitzen. Ähnlich wie in der Türkei ist auch in Spanien die Partei, die sich für das Selbstbestimmungsrecht der wichtigsten Minderheitennationalität einsetzt, schlicht verboten.
Der sich abzeichnende Konflikt der Zukunft entspannt sich zwischen der laizistischen Militäroligarchie und den zum politischen Islam neigenden Volksmassen. Die kemalistisch-laizistische Republik hat nicht nur für die nationalen und religiösen Minderheiten Elend und Unterdrückung gebracht. Auch die unteren Schichten der Mehrheitsbevölkerung haben massive Einbußen des Lebensstandards hinnehmen müssen, während die Elite und die Mittelschichten sich nach westlichem Vorbild dem Konsumrausch hingeben. Unter diesen Umständen erhält die politische Entmündigung durch die Oligarchie eine besondere Sprengkraft. Die Form, die dieser zunehmende soziale und demokratische Protest anzunehmen sich anschickt, ist die des politischen Islam. Die aktuelle islamische AKP-Regierung, die voll mit der Oligarchie kooperiert, kann als Vorbote verstanden. Radikalere Kräfte, die einen Bruch mit den USA und Israel fordern und sich dabei gleichzeitig gegen die Interessen der eigenen Oligarchie wenden, sind dabei Einfluss zu gewinnen.
Gegenwärtig setzen die breiten Massen noch einige Hoffungen in die EU. Sie erwarten sich die Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lage, so wie es ihnen auch versprochen wird. Gleichzeitig meinen sie, dass die EU dem Regime den diktatorischen und oligarchischen Charakter nehmen wird. Doch das sind Illusionen, die die EU weder erfüllen will noch kann.
Denn im Grunde handelt es sich bei der Erweiterung gen Osten und Süden um ein neokoloniales Projekt, wenn auch neuer und besonderer Form. Statt direkter Fremdherrschaft wird die feste Einbindung der Elite in den Machtapparat der EU angestrebt, während die Massen mit einem Klon des sich zunehmend ähnelnden euro-amerikanischen politischen Systems ruhig gehalten sollen.
Doch der Kredit der EU wird bald verspielt sein, wenn sich die soziale Lage der Mehrheit nicht merklich verbessert. Letzteres aber ist angesichts der liberalistischen Politik der EU und der globalen Finanzinstitutionen, die letztlich nur die Profite der großen westlichen Konzerne sichern, höchst unwahrscheinlich. Im neu beigetretenen Osteuropa läuft dieser Prozess gerade vor unseren Augen ab. Die um sich greifende Enttäuschung wird den sozialen Konflikt anheizen und politisch auf die Mühlen des Islamismus gehen, so wie sie im Osten oft die Form des sozialpopulistischen Nationalismus annimmt.
Indes hat die EU schon gezeigt, auf welcher Seite sie in dieser Auseinandersetzung steht. Ende der 1990er Jahre verbot das türkische Regime das Tragen des Kopftuches auf öffentlichen Universitäten. Damit sollte dem Vormarsch des politischen Islams mit diktatorischen Mitteln Einhalt geboten werden. Seitens der EU wurde diese Maßnahme, die gegen die demokratischen Grundrechte auf freie Meinungsäußerung und freie Religionsausübung verstößt, gebilligt. Für die EU mit ihren demokratischen Werten geht die Gefahr prinzipiell vom Demos, vom Volk und seinen Forderungen aus, so beim Militärputsch von 1980, während des Aufstandes des kurdischen Volkes und nun bei der islamischen Aufbäumung gegen die westlich-kapitalistische Herrschaft.
Linkes Trauerspiel
Die historische Linke Europas unterstützt grundsätzlich das Projekt EU, auch wenn sie proklamiert es sozial reformieren zu wollen. Sie sieht den Nationalismus als Hauptgefahr und dessen Überwindung als zivilisatorische Errungenschaft an. Dass die EU den Herrschenden als Motor des Wirtschaftsliberalismus dient und ihr institutioneller Aufbau zur politischen Entmündigung der Bevölkerung führt, während im Rahmen der Nationalstaaten eine Verteidigung der sozialen und demokratischen Rechte noch am ehesten möglich ist, wird von ihnen nicht gesehen. Sie sind selbst zum linken Flügel des Liberalismus geworden und haben sich mit der imperialistisch-kapitalistischen Weltordnung versöhnt. Angesichts des Heraufdräuens des amerikanischen Reiches verstehen sie sich als aufklärerisches Alternativprojekt, allerdings ohne die Weltordnung in Frage zu stellen.
Daher haben sie die Osterweiterung frenetisch begrüßt und wiederholen dies nun hinsichtlich der Türkei. Statt mit christlich-fundamentalistischer Rhetorik gerechtfertigten imperialen Kriegen, wollen sie die von ihnen hochgehaltenen und als überlegen verstandenen westlichen Werte mit Überzeugung und Konsens durchsetzen und nur ausnahmsweise zu Gewalt greifen. Hinter dem ideologischen Nebelschleier geht es jedoch um die gleichen kapitalistisch-imperialistischen Interessen, als dessen Werkzeug sie sich anbieten.
Diese Linke meint, dass man die Oligarchie zu demokratischen Reformen angesichts der „islamistischen Bedrohung“ nötigen könnte, denn diese sei nun von der Unterstützung der EU als letzte Rettung abhängig. Dass solche Reformen nur ganz oberflächlich und kosmetisch sein können und dass à la longue wieder auf repressive Mittel zurückgegriffen werden wird müssen, das können oder wollen sie nicht sehen. Letztlich läuft alles auf die zynische Position der Unterstützung einer laizistisch-elitären Militärdiktatur gegen das vermeintlich gefährliche, islamische Volk hinaus. Diese Ignoranz hinsichtlich den Forderungen der einfachen Bevölkerung – nur weil sie islamisch verkleidet erscheinen – schließt den Teufelskreis, der bewirkt, dass die Linke immer weniger eine Alternative zum westlich vermittelten Kapitalismus bieten kann und der Islamismus zu einzigen Opposition wird.
Die türkische Linke einschließlich der kurdischen Bewegung erweist sich ihren Ansprüchen als genauso wenig gewachsen. Sie spielt mit ihrer weitgehenden Unterstützung des EU-Beitritts eine ähnliche Rolle wie ihre Geistesverwandten in Europa. Angesichts ihres historischen Scheiterns gegen die Militäroligarchie setzt sie in ihrer Verzweiflung ganz auf die EU. Sie hofft damit zwei Fliegen auf einen Schlag zu erschlagen. Einerseits glaubt sie so die Militärs zurückdrängen und einige diktatorische Elemente abbauen zu können. Andererseits teilt sie die laizistische Verurteilung die islamische Mobilisierung der Massen. Dabei will sie nicht einsehen, dass sich der Charakter des Islamismus wandelt, nämlich weg von einem Instrument der Oligarchie gegen die Linke, wie er vor dem Zusammenbruch der UdSSR dominant war. Je weniger die Linke in der Lage ist die Interessen der Armen politisch zu artikulieren und zu organisieren, desto mehr sehen diese im politischen Islam ihre Vertretung. Bereits jetzt entwickelt sich ein antiimperialistischer und sogar antikapitalistischer Rand dieser Bewegung. Man braucht kein Prophet zu sein um prognostizieren zu können, dass diese Kräfte, die sich natürlich gegen die EU genauso wenden wie gegen die Nato, anwachsen werden. Während der Mainstream der türkischen Linken mit dieser fatalen Position damit zur weiteren Marginalisierung verurteilt ist und bestenfalls vereinzelt von der Elite als linke Flankendeckung adoptiert werden könnte, bedeutet das für die kurdische Führung um die PKK sich zum Feind der antiimperialistischen Kräfte in der Region und letztlich auch in der Türkei zu machen, ohne die das kurdische Selbstbestimmungsrecht nie erkämpft werden wird können.
Anti-EU-Bündnis mit türkischen und kurdischen Revolutionären
Nicht die EU kann als Heilmittel gegen den Chauvinismus dienen, sondern nur der gemeinsame Kampf der europäischen Unterschichten mit den türkischen Volksmassen gegen die EU, gegen die liberalistischen Diktate, gegen die von Washington geführten und von der EU indirekt unterstützende Kriege kann den Chauvinismus überwinden und zur Völkerverständigung führen. Es bedarf eines antiimperialistischen Pols für die Selbstbestimmung (sowohl im nationalen als auch im demokratischen und sozialen Sinn) in Europa unabhängig von der Mitgliedschaft des jeweiligen Staates an der Union, an dem auch die revolutionären Kräfte der Türkei teilnehmen müssen. Deren proklamiertes Ziel muss die Zerschlagung der EU sein.
Willi Langthaler
Anfang November 2004