Zwei Monate nach dem Sturz Ben Alis merkt man, dass der soziale Aufruhr, die diffuse Spontaneität, die Demonstrationen der Volkskomitees, die Proteste der „Zivilgesellschaft“ langsam nachlassen und zwei verschiedenen Phänomenen Platz machen. Diese zeigen einen latenten politischen und sozialen Bruch an.
Auf der einen Seite ist da die Enttäuschung, die Desillusionierung, die Entmutigung. Diese Stimmung dominiert an der Basis, unter dem einfachen Volk, bei den Ärmsten der großen Städte und der armen ländlichen Gebiete, wie de Region El Kef oder Kasserine. Selbst ein kurzer Besuch in Tunesien reicht um zu erkennen, dass sich für diese Schichten sozial nichts verändert hat.
Auf der anderen Seite hat das soziale Ferment unmittelbar nach dem Sturz des Diktators die Basis für eine politische Dynamik der verschiedensten Gruppierungen und Parteien geschaffen. Hier jagt eine Pressekonferenz der neuen Formationen die andere, in denen sie ihre Vorstellungen von der Zukunft Tunesiens erklären. Die flüchtige „Zivilgesellschaft“, die Internet-Subversion der Jugend, gibt den Weg für die „politische Gesellschaft“ frei. Alles was sich unter der Bleiplatte der Diktatur im Untergrund mit Ach und Weh halten konnte, tritt nun an die Oberfläche.
Konstituante und Wahlgesetz
Die größte Errungenschaft des Volksaufstandes vom vergangenen Januar ist die Verfassungsgebende Versammlung, die Tunesien zur Speerspitze des arabischen Erwachsens macht. Die Wahlen für diese Konstituante wurden für den 24. Juli anberaumt. Ganze 49 Parteien haben angekündigt sich am Urnengang beteiligen zu wollen. Das gesamte politische Spektrum ist vertreten: Rechte, Linke, Laizisten, Islamisten, Nationalisten, Panarabisten, prowestliche Liberale, revolutionäre Kommunisten und Sozialdemokraten. Auch die sogenannten Unabhängigen dürfen nicht fehlen, die sich als Vertreter der „Zivilgesellschaft“ verstehen. Ihnen sind alle Parteien fremd, denn sie lehnen Parteien als solche ab.
Gegenwärtig steht das Wahlgesetz im Zentrum der politischen Debatte. Die provisorische Regierung, die politischen Erben des Benalismus, die noch immer die Schalthebel der Macht in Händen halten, haben eine Wahlkommission gebildet. Hinter allerlei technischen Details und Spitzfindigkeiten versuchen sie ein Mehrheitswahlrecht durchzusetzen, von dem die alten Eliten unter Ben Ali und die tunesische Bourgeoisie, die von der Revolte nur durchgerüttelt, aber keineswegs in den Grundfesten erschüttert wurde, profitiert.
Diesem Versuch stellen nicht nur zahlreiche Parteien der radikalen Linken, sondern auch viele Organisationen der „Zivilgesellschaft“ und demokratische Intellektuelle ein demokratisches und proportionales Wahlsystem entgegen. Das Spiel ist offen, doch es gibt ausreichend Anlass zur Sorge. Die zentrale Wahlkommission muss ihren Auftraggebern gehorchen und wird ein Wahlgesetz formulieren, dass antikapitalistische und revolutionäre Kräfte klar benachteiligt.
Leider hat die islamische Bewegung Ennahdha (die zweifellos in Hinblick auf ihre soziale Basis die kompakteste gesellschaftliche Kraft ist) noch keine eindeutige Position zur Frage des Wahlgesetzes ergriffen, obwohl sie in einem soliden Bündnis mit der Kommunistischen Arbeiterpartei Tunesiens steht. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Nachdem Ennahdha die stärkste politische Partei ist, könnte ein Mehrheitswahlrecht von bedeutendem Vorteil für sie sein.
Die Kommunistische Arbeiterpartei Tunesiens, die nicht nur die stärkste Partei der revolutionären Linken, sondern überhaupt der tunesischen Linken ist, spricht sich entschieden für ein demokratisches Wahlgesetz aus. Nur ein solches kann die volle Teilnahme des Volkes und dessen Souveränität garantieren.
Die Frage der „Volkssouveränität“, wie diese ausgeübt werden soll, über welche Institutionen sie Ausdruck finden soll, steht ganz oben auf der tunesischen politischen Tagesordnung. Wie man sieht, wird die soziale Frage heute von der politischen und der juridischen Frage nach der Staatsform überdeckt. Dies ist vielleicht die größte Schwäche, gleichzeitig jedoch der objektive Niederschlag der so genannten „Januarrevolution“.
Auf unserer Reise haben wir auch die staubigen Straßen von Kasserine besucht, von wo die Proteste ihren Ausgang nahmen. Für die Menschen dort hat sich nichts verändert. Sie verlangten Brot, sie wurden getötet, die Polizei hat auf sie geschossen, Tote, Verletzte, sogar während des Begräbnisses eines Jungen, das nicht genehmigt worden war. Ben Ali ist gegangen, in Tunis wird das Wahlgesetz diskutiert, doch sie leiden weiterhin Hunger, wissen weiterhin nicht, unter welchem Dach sie schlafen werden und beweinen noch weiter ihre Toten.
Ihnen ist keine Gerechtigkeit widerfahren. Niemand hat sich bemüßigt, sie aufzusuchen, die Mörder ihrer Kinder sind frei und wurden nicht gerichtet, sie haben keine Hoffnung für die Zukunft. „Die Revolution mag uns die Freiheit gegeben haben, sie hat uns jedoch keine Würde gegeben.“