Der Wolf und das Reh

24.11.2020
Von Murat Gürol
Die östlichen Menschen verstehen es gut, mit Fabeln und prägnanten Anekdoten Dinge auf den Punkt zu bringen: Der Wolf am Ufer warf dem Reh, das etwas weiter flussabwärts trank, vor, dass es ihm das Wasser trübe. Hierauf sagte das Reh, „aber ich stehe doch flussabwärts, wie kann ich dein Wasser trüben?“. Sein Einwand bewahrte das Reh nicht davor, im nächsten Augenblick vom Wolf gefressen zu werden. Am Jahrestag der Reichskristallnacht wurden Wohnungen von mutmaßlichen Muslimbrüdern durchsucht und unter anderem Konten von mindestens sechs Vereinen und Dutzender Privatpersonen gesperrt, weil die Muslimbrüder eine terroristische Organisation seien.

 Als Begründung heißt es in der Anordnung der Grazer Staatsanwaltschaft,

   " … die [der Muslimbruderschaft] zugeschriebenen Taten[i] [waren] deshalb terroristische Straftaten, weil sie nicht auf die Herstellung oder Wiederherstellung demokratischer und rechtsstaatlicher Verhältnisse oder die Ausübung oder Wahrung von Menschenrechten, sondern auf die Einrichtung eines als Kalifat bezeichneten, faschistisch nach dem Führerprinzip strukturierten islamischen Staates auf Grundlage [der Scharia] ausgerichtet waren.“

Es wäre müßig, sich auf die Widersprüche und das Rosinenpicken im Dokument einzulassen, obwohl dies eine lohnenswerte Quelle und ein Paradebeispiel für manipulative Beweisführung wäre. Schnell würde man sehen, dass z.B. aus einer veralteten, radikalen Hamas-Charta zitiert wird, die spätestens seit 2017 durch eine auf Prinzipien von Demokratie und gegenseitiger Anerkennung gegründeten Charta ersetzt wurde, die sich für eine Zwei-Staaten-Lösung einsetzt. Schnell wäre zu sehen, dass das Parteiprogramm der FJP, der Partei der Muslimbrüder in Ägypten, nicht als Referenz genommen wurde, wo eindeutig ein Bekenntnis zu Demokratie und Pluralismus steht. Schnell wäre zu sehen, dass 90 Jahre intellektueller Arbeit der Muslimbrüder, in der sie das demokratische Prinzip mit der islamischen Tradition verheirateten, indem sie das schura-Prinzip als Entsprechung zu beratenden Organen in modernen Staaten setzen, einfach ignoriert wurden. Die Liste ließe sich seitenlang fortsetzen.

Es wäre ebenfalls müßig, die teilweise abenteuerliche Beweisführung zur terroristischen Natur der Muslimbrüder auf den Prüfstand zu stellen. Die damit argumentiert, dass Hassan al-Benna, Begründer der Muslimbrüder, den Standpunkt des Muftis von Jerusalem, Amin al-Husseini, zur jüdischen Besiedlung Palästinas teile. Die den politischen Pragmatismus der FJP nicht sehen will, die Mädchenbeschneidung, einen weit verbreiteten, jahrtausendealten koptischen Brauch, wieder aus der Illegalität zu holen, obwohl die Muslimbrüder qua ihrer Selbstdefinition seit ihrem Bestehen mit ihrer Aufklärungsarbeit gegen die Mädchenbeschneidung gekämpft hatten.

Die überhaupt auf allen Augen blind ist, geht es darum, eine Gemeinsamkeit zwischen Muslimbrüdern und normalen Menschen zu erkennen.

Es ist sicherlich nicht Aufgabe der Ermittlungsbehörden, Entschuldigungen für ihre Ermittlungsobjekte zu suchen. Aber von den beratenden Gutachtern, selbst wenn es ein Heiko Heinisch ist, hätte man einen Funken Ehre erwarten können. Stattdessen liest sich das Begründungsdokument wie eine Auflistung aller Stigmata, die es im Zusammenhang mit Muslimen gibt.

Es werden keine Gemeinsamkeiten gesucht. Es wird das Andersartige, Fremde, Barbarische gesucht.

Demokratiefeindlichkeit. Kollaboration mit Nazis. Antisemitismus. Mädchenbeschneidung.

Und das Rabi’a Fingerzeichen.

Das Rabi’a Fingerzeichen stehe für den gewaltsamen Aufstand gegen die Ordnung, für muslimbrüderliche Propaganda. Mit Rabi’a gingen Tausende in den freiwilligen Tod für die vereinigten Staaten von Arabien.

Das Rabi’a-Zeichen will einen Gottesstaat errichten anstelle eines – ja was eigentlich?

Unter normalen Umständen würde ich an dieser Stelle auf die Doppelmoral zwischen den Zeilen und auf den latenten, nein offenen Rassismus, der aus diesem Dokument trieft, eingehen. Ich würde z.B. aus der Gesetzesvorlage aus dem November 2018 zitieren, das verschiedene politische Organisationen und deren Fingerzeichen verbietet:

    "Die Muslimbruderschaft fördert aktiv ein Opfer-Narrativ der einseitigen Benachteiligung von Muslimen in der österreichischen Gesellschaft. Westliche Bruderschaftsorganisationen haben bewusst anti-muslimische Vorfälle und Haltungen für ihre Zwecke überzeichnet, um somit eine Belagerungsmentalität innerhalb der jeweiligen lokalen muslimischen Communities zu erzeugen, mit dem Argument, dass Regierungen und westliche Gesellschaften gegenüber den Muslimen und dem Islam im Allgemeinen feindlich eingestellt sind. Diese Dynamik ist insbesondere im österreichischen Kontext in den vergangenen Jahren sichtbar geworden.“

Und würde weiter einwenden, dass jegliche politische Meinungsäußerung hiermit von vornhinein mundtot gemacht wird, weil dies als Zeichen einer radikalen Gesinnung verstanden werden würde. Dass jegliche politische Betätigung mit Bezug auf Islam von vorhinein kriminalisiert wird.

Das alles würde ich tun, würde den linken sowie den rechten Rassismus anprangern, würde für ein friedliches und freies Leben ohne intellektuelle und politische Bevormundung plädieren, würde aus dem Qur’an zitieren und sagen, „meine Gebete, meine Gottesdienste, mein Leben und mein Tod sind für Allah, den Herrn der Welten“ (Sure En’am, 162). Und hätte doch die Obsession mit dem Rabi’a-Zeichen nicht verstanden.

Ich hätte nicht verstanden, dass der Wolf kein sauberes Trinkwasser will.

Woher kommen die Vorwände?

Manchmal ist es in der Problemlösung notwendig, den Problemkontext zu erweitern, und plötzlich werden Zusammenhänge klar, die zuvor im Dunklen verborgen waren. Ohne einen Bezug zur kolonialen Politik – ich halte den Begriff des Postkolonialismus für eine Beschönigung – lässt sich die Politik des inneren Kolonialismus nicht erfassen.

Die Muslimbruderschaft ist nach dem Bankrott von arabischem Nationalismus und Sozialismus die einzige Massenbewegung in Ägypten, die sich gegen eine koloniale Bevormundung der arabisch-muslimischen Welt richtet. Niemals hätte beispielsweise eine FJP-Regierung der EU 50.000 Quadratkilometer Seefläche abgetreten, indem sie Griechenland so weit entgegengekommen ist[ii], denn sie hätte im Interesse Ägyptens und seines Volkes gehandelt. Da aber in Ägypten ein Diktator von Kolonialherren Gnaden regiert, sind diesem die Interessen seiner Herren und sein eigenes politisches Überleben wichtiger als der legitime Anteil, der Ägypten von Seerechts wegen zustünde. Die Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen.

Es ist also kein Zufall, dass in Ägypten die Muslimbruderschaft 2013 verboten wurde und im Gleichtakt in verschiedenen europäischen Ländern angefangen wurde, zunächst mit Studien, dann mit Gesetzen, das europäische Standbein muslimischen Widerstands zunächst legistisch, dann repressiv zu brechen. Und dass das Rabi’a-Zeichen, Zeichen des Widerstands gegen die Handlanger der Kolonialmächte, langsam aber sicher seinen absurden Platz in der langen Liste verbotener Handzeichen in Österreich erhält.

Es ist nicht möglich, gegen imperiale und koloniale Politik zu sein, und im Kontext der muslimischen Welt die einzig verbliebene, demokratische Massenbewegung zu dämonisieren.

[i] Bezug wird genommen auf Handlungen in Nahost

[ii] Der im August 2020 zwischen Ägypten und Griechenland deklarierte Seegrenzenverlauf legt – illegitimerweise – einer winzigen Insel einen so großen Wirkradius zugrunde, wie sonst nur für Festland und Inselstaaten üblich ist. Zusammen mit den zu groß angenommenen Radien anderer griechischer Inseln wird dadurch ein erheblicher Bereich im erdgasreichen östlichen Mittelmeer Griechenland zugeschlagen, der sonst zu Ägyptens Seezone gehören würde. Das Abkommen wurde in Ägypten nie öffentlich diskutiert.

Verweise