Ende des Glaubens?

05.05.2018
Gedanken zu Susanne Sohn
von Albert F.Reiterer
Susi Sohn hat den „Salzburger Nachrichten“ ein Interview gegeben für die zeitliche Umgebung des 200. Geburtstags von Karl Marx. Man könnte sagen: Was sind schon die „Salzburger Nachrichten“? Stimmt. Auch in den Bundesländern gehört die Zeitung, die bis in die 1970er versucht hat, eine Art honorigen Deutschnationalismus hoch­zuhalten, nicht unbedingt zu den Medien, die man gelesen haben muss.
Susanne Sohn

Aber um die „Salzburger Nachrichten“ geht es auch nicht.

Und Susi Sohn? Man könnte selbstverständlich sagen, dass sie erst recht belanglos ist. Aber wie kam eine KPÖ dazu, im heikelsten, im kritischsten Augenblick ihrer Geschichte eine Person dieser intellektuellen und politischen Kapazität zu ihrer Vorsitzenden zu machen? Ich habe vor einigen Monaten einmal auf ihre Autobiographie, im Artikel prominent abgebildet, hingewiesen.

Das ist die entscheidende Frage. Zur Person ist eigentlich nichts weiter zu sagen. Wir sollten die alten Anwürfe, die heute und vielleicht auch schon seinerzeit vom politischen Stil und der Art der Auseinandersetzung her unpassend waren („Renegat“, …) nicht mehr verwenden. Allerdings: Wenn sie je auf jemand gepasst hätten, dann hier…

Aber das politische Problem ist: Menschen, die politisch gar nicht so weit von S. Sohn weg sind, stehen heute an der Spitze der Bundes-KP: Und darüber muss man sprechen. Man kann nicht oft genug daran erinnern.

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Sozialismus, Sozialismus und Sozialismus
Eine politische Reflexion aus Anlass eines Erinnerungsbuchs einer ehemaligen Kommunistin

Ein Freund hat mir ein Buch geschenkt. Wenn man ein Mindestmaß an Reflexion und Analyse erwartet, so ist es ein wirklich schlechtes Buch. Und doch empfehle ich allen Linken, zumindest jenen in etwas fortgeschritteneren Alter, dieses Buch wenigstens teilweise zu lesen:

Susanne Sohn (2017), Als der Kommunismus stürzte und mir nichts mehr heilig war. Wien: Löcker. 340 S.

Susi Sohn war kurzfristig Co-Vorsitzende der KPÖ (1990 – 1991). Als sie diese Funktion nach stark einem Jahr niederlegte, trat sie gleich auch aus der KPÖ aus. Nun, ein Vierteljahr-hundert später, legt sie – sozusagen – einen Rechenschaftsbericht vor, nicht nur über diese Zeit, sondern über ihr ganzes politisches Leben.

Es sind im Grund politische Episoden, die man findet, zusammen mit der Trauer über ein vergeudetes politisches Leben. Wer mehr erwartet, wird sehr enttäuscht.

An einem zentralen Beispiel möchte ich demonstrieren, was ich unter mangelnder Reflexion verstehe. In der KPÖ war die Frage des Stalinismus eine entscheidende Angelegenheit. Sohn schildert, wie sie einige Stellungnahmen dazu erlebte. Für sie ist das zentrale Vokabel „Verbrechen“. Sie liest einen Artikel von Ernst Wimmer zum 100. Geburtstag von Stalin nach drei Jahrzehnten wieder: „Jetzt entdeckte ich erst beim neuerlichen Lesen das Wort Verbrechen. Es kam nur ein einziges Mal vor“ (46, auch S. 66 über Garscha und ähnlich S. 95 über Baier). Und bei Stalins Studienaufenthalt in Wien zur nationalen Frage kommt eine infame und völlig überflüssige Bemerkung: Damals sei auch Hitler in Wien gewesen und habe über Nation nachgedacht. Das zur Schreibweise.

Ich bin der Letzte, der behaupten würde, moralische Kategorien hätten in der Politik nichts verloren. Aber die Natur und Struktur des Stalinismus wie auch jede andere soziale Struktur erklären sie gewiss nicht. Was versteht man besser, wenn man sagt: Stalin habe „Verbrechen“ begangen? Man ist also frappiert. Aber dann begreift man: An diesem politischen Code-Wort hat sich ein Gutteil der Auseinandersetzung abgespielt. Das war rundum kennzeichnend. Und dann wundert man sich ein zweites Mal. Denn Sohn dürfte eines überhaupt nichts begriffen haben, bis heute. Hier fand eine Verschiebung statt. Die Neupositionierung stand vor der Analyse, ein politisches (Schuld- und Neu-) Bekenntnis vor der Dekonstruktion. Es ist da wenig verwunderlich, wenn neuerdings wieder ein Neostalinismus auftritt, der z. B. mit Losurdo eine ganz andere intellektuelle Kapazität aufstellt.

Und daran scheiterte eine tragfähige Positionierung auf der einen wie der anderen Seite. Sohn übernimmt das Vokabular und die Argumentation der „bürgerlichen“ Kommunismus-Kritik. Eine bessere Bezeichnung als dieses schiefe „bürgerlich“ fällt mir nicht ein. Es ist die Haltung der hegemonialen Liberalen, die im Vollbewusstsein ihres vorläufigen historischen Siegs nicht im Traum daran denken, ihre eigene Position mitzudenken. Sohn übernimmt demütig diese Haltung. Ein winziges Detail ist kennzeichnend, und ich war betroffen davon: In der Vorbemerkung dankt sie nun, 2017, ihrem „’Doktorvater’ Heinrich Schneider … für wissen-schaftliche Anregungen“ (7). Promoviert hat sie, so steht es im Klappentext, 1982. Heinrich Schneider war von fundamentalistischen Katholiken à la Erich Heintel eingesetzt worden, um in Wien zwar eine Politikwissenschaft zu haben, diese aber strikt konservativ zu kontrollieren – um ja keine politische Aufklärung zu riskieren …

Eine stringente Analyse des unentwirrbaren Knotens einer kommunistischen Partei-Entwick-lung ist unter solchen Voraussetzungen natürlich völlig unmöglich, auch bei vielleicht schär-ferem analytischen Blick. Sohn berichtet von einem Partei-Mitglied, welches bei einer De-monstration ein Plakat mit sich trug: „Bin ich der einzige Stalinist?“ Hier wäre anzusetzen. Warum positionieren sich (wenige) Leute so? Neben der Struktur-Analyse des Nomenklatura-Systems wäre das die entscheidende Frage. Oder um eine ganz andere Kurve zu nehmen: Eine der Organisationen mit den größter Verbrechen in ihrer Geschichte ist die Römische Kirche. Aber sie hat heute noch eine Milliarde Mitglieder.

Der Weg aus der sozialistischen Orientierung in die trauernde Bilanzierung über einen verlorenen Lebensplan wird verständlich – und macht doch betroffen. Denn Sohn thematisiert kein einziges politisch relevantes Thema – vor allem die Frage, warum die Linke in Österreich, in Westeuropa, in einer so hoffnungslosen Minderheiten-Lage, ja praktisch verschwunden ist.

Also haben die Altstalinisten und die Breschnjewisten – wie wir sie gern nennen – recht? Wenn die „Wiener“, die Bundes-KPÖ, völlig in die Irre laufen, müssen doch wohl die PdA oder zumindest die „Steirer“ richtig liegen, oder?

Wir schätzen die Positionierung der steirischen KPÖ zu einigen fundamentalen Fragen linker Politik, wie etwa gegenüber dem EU-Imperium. Wenn wir aber der Meinung wären, dass die steirische Partei unsere Sichtweise vertritt, wären wir ihr bereits beigetreten, zumal eine grö-ßere Organisation immer einen unschätzbaren Vorteil bedeutet.

Tatsächlich halten wir ihre Grundlage für fundamental defekt. Zum besseren Verständnis: Man kann Lenin für einen entscheidenden politischen Theoretiker des 20. Jahrhunderts halten – und trotzdem der Meinung sein, dass z. B. der „Empiriokritizismus“ 1908 schlechte Philo-sophie und ein Rückfall ins 18. Jahrhundert hinter Kant ist; dass seine Haltung 1918 den späteren Weg in den Stalinismus ermöglicht hat; usf. – Was hier steht, soll eine solidarische Kritik, nicht ein Angriff sein. Aber es darf der Linken nicht schaden, offen zu sprechen.

Rutscht S. Sohn in den hegemonialen mainstream hinein, so kritisieren wir bei Strömungen wie der steirischen KP, der DKP oder der KKE (Griechenland) die Unfähigkeit, sich aus einer konkreten Analyse einer konkreten Situation heraus eine eigenständige theoretische Grund¬lage zu geben. Besonders deutlich wird dies an der Haltung zur ehemaligen Sowjetunion. Nun scheint dies eine dogmatische Frage zu sein, welche außer Altlinken kaum noch jemand inter-essiert. Mit der „Stalin-Frage“ kann man heute Leute auf der Suche nach einer politischen Orientierung nur verscheuchen. Aber in der innerlinken Debatte kommen wir darum nicht herum, weil es sofort praktisch-politische Konsequenzen hat: Was streben wir an? Und selbst wenn wir den Wunsch nach einem kompletten Neustart hätten – und oft genug hat man das übermächtige Bedürfnis – geht dies nicht. Nicht einmal taktisch. Denn wir werden ja doch von unseren mächtigen Gegnern in propagandistischer Manier ständig darauf angesprochen.

Ein „Sozialismus“, heute theoretisch als System auskonstruiert, ist eine intellektuelle Arro¬ganz bzw. Marotte, angesichts unserer Kräfte auch geradezu lächerlich. Aber gleichzeitig gibt es sozialistische Grundsätze, die m. E. unverzichtbar und unverhandelbar sind. Dazu zähle ich die Gleichheit der Menschen auch in der Ressourcen-Ausstattung, welche allen ein volles Menschsein auf der Höhe des historisch Machbaren ermöglicht. Dazu zähle ich auch die persönliche Freiheit, sofern sie nicht die Potenzen und die Handlungsfähigkeit anderer Menschen einschränkt. Konkret heißt das: eine persönliche Freiheit, welche nicht die Lizenz zur Anhäufung von Reichtümern und zur Akkumulierung von Macht enthält. Diesen Impuls – und eine Reihe anderer, vor allem der Analyse – nehmen wir von Marx auf.

Für diejenigen aber, die politisch in irgendeiner Weise engagiert sind, sollte auch klar sein: Jeder Schritt auf dem Weg dorthin hat nur organisiert eine Chance. In diesem Sinn sind wir auch Leninisten. Und hier füge ich hinzu: Lenins politische Analyse hat bei allen Defizienzen eines Intellektuellen seiner Zeit einen Wert, der sie unverzichtbar macht.

Den Zusammenbruch des „Realsozialismus“ sowjetischer Prägung aber beurteilen wir als Katastrophe eines Systems, welches sich zwar dem westlichen Imperialismus entgegen stellte. In diesem Sinn haben wir die Rolle dieses Systems taktisch geschätzt. Aber es war ein Macht-System neuer Eliten, das wir in keiner Weise als vorbildhaft für unsere eigenen Vorstellungen betrachten. In dieser Sichtweise müssen wir strategisch sagen: Dieser Zusammenbruch erleichtert allen Sozialisten auf längere Frist die Argumentation.