Unterbrochene Wechselwirkung

26.08.2013
Kurdische Selbstbestimmung in Syrien zwischen Demokratiebewegung und Geopolitik
von Wilhelm Langthaler
In den vergangenen Wochen kam es zu den bisher heftigsten militärischen Zusammenstößen zwischen der PKK-nahen kurdisch-syrischen PYD und der bewaffneten Rebellion gegen das Assad-Regime. Der Konflikt ist nicht monokausal, sondern vielschichtig. Doch der wichtigste Grund dafür ist der exklusive Machtanspruch der Jihadisten bzw. deren militärische Dominanz innerhalb der bewaffneten Bewegung.

Es ist umgekehrt bemerkenswert, dass bis zur gegenwärtigen Eskalation größere Auseinandersetzungen vermieden werden konnten. Die PYD hatte versucht sich möglichst aus dem bewaffneten Konflikt heraus zu halten. Gleichzeitig profitierte sie vom Bürgerkrieg unter der arabischen Mehrheit und dem dadurch entstandenen Kräftegleichgewicht durch Übernahme von mehrheitlich kurdischen Territorien. Der linksdemokratische Teil der Rebellion um Michel Kilo war und ist bis heute bemüht, den Konflikt mit den Kurden zu dämpfen. Für die Stadt Ras al-Ain (kurdisch Sere Kaniye) vermittelte es ein beispielgebendes Stillhalteabkommen, das von diversen lokalen, islamischen und islamistischen Kräften mitgetragen worden war. Selbst die jihadistische Nusra-Front war zu dem Zeitpunkt gezwungen die Vereinbarung zu respektieren.

Narrative und Interessen

Betrachten wir zuerst den Zusammenstoß der Narrative (denn die sind durch die Vertreter der verschiedenen Seiten bis nach Europa präsent), um in der Folge über die unterschiedlichen Interessen zu den Ursachen des Konflikts und Lösungsansätzen vorzustoßen: Die kurdische PYD wirft der Gegenseite a) Genozid an den Kurden, b) Unterdrückung verschiedener Minderheiten und Andersdenkender und c) Agentenfunktion für die Türkei vor. Die bewaffneten Rebellen ihrerseits bezichtigen die PYD der Kollaboration mit dem Assad-Regime und der Absteckung eines separaten kurdischen Territoriums.

Widersprüchliche Interessen des türkischen AKP-Regimes

Der Vorwurf des Genozid ist schlicht unrichtig und kann als Versuch gewertet werden, auf den Zug der europäischen öffentlichen Meinung aufzuspringen – nach dem Motto, wer zuerst Völkermord schreit hat gewonnen. Dass es einen wachsenden Konfessionalismus seitens der islamistischen Kräfte gibt, ist unbestritten. Je extremer sie in ihren kulturellen Vorstellungen sie sind, desto unduldsamer verhalten sie sich auch gegen Andersdenkende, bis hin zum Takfirismus („Exkommunikationismus“), der alle als Ungläubige bezeichnet und als vogelfrei erklärt, die sich nicht der Botmäßigkeit der jeweiligen Gruppe unterwerfen. Doch auch die PYD ist über Dissens nicht gerade erfreut, wenn auch sicher nicht in der Art wie die Jihadis – im Bürgerkrieg ist das nun einmal so, dass Meinung unmittelbar militärisch interpretiert wird. Dass es zwischen den bewaffneten Rebellen und der Türkei grosso modo eine Interessenkoinzidenz gibt, ist sicher zutreffend, doch drängt sich eine weitere Differenzierung und Analyse auf. Denn das (partielle) Zusammenfallen der Interessen heißt noch nicht, dass die Aufständischen direkte Agenten Ankaras wären. Zudem gibt es auch für die regierende AKP einige Optionen, die nicht in die gleiche Richtung zeigen. Ankara scheint vor allem mit den moderaten Islamisten wie den Muslimbrüdern und jenen bewaffneten Gruppen zusammenzuarbeiten, die das Label FSA führen und die Vertretung durch den „Syrischen Nationalrat“ und die „Syrische Nationale Koalition“ anerkennen. Diese wurden allesamt mit federführender Unterstützung der Türkei gebildet. Aber diese Kräfte bekennen sich zumeist nicht zu einem arabischen Nationalismus (auch wenn sie diesen als potentielles Bündnis durchaus mit berücksichtigen müssen) und schon gar nicht zu der radikal antikurdischen Tradition des Kemalismus, die ja selbst Erdogan im Sinne des Neo-Osmanismus aufzuweichen versucht. Die Position des SNC-FSA-Milieus zur kurdischen Frage räumt zwar nicht das Selbstbestimmungsrecht ein (zu diesem bekennt sich im arabisch-syrischen politischen Spektrum kaum jemand), aber kann grundsätzlich als weich bezeichnet werden. Realpolitisch fühlen sie sich vermutlich dazu verpflichtet türkische Interessen nicht zu verletzen, denn die wichtigste Unterstützung kommt vom übermächtigen nördlichen Nachbarn. Die treibende Kräfte des Konflikts mit der PYD sind indes die verschiedenen Jihadisten, insbesondere die am meisten hermetische und am wenigsten syrische unter ihnen, nämlich der „Islamische Staat im Irak und in Syrien“ (ISIS) – die kampferprobte irakische Qaida. Die Türkei lässt diese zwar gewähren mangels potenter militärischer Alternativen, doch politisch können sie an deren Stärkung kein Interesse haben. Zu wenig sind sie kontrollierbar und zu sehr hat der große Nato-Bruder USA sein Veto gegen sie eingelegt. Zudem öffnet sich für die Türkei ein völlig anderes Szenario, das mit der gesamten modernen Geschichte bricht. In Irakisch-Kurdistan wurde diese Politik bereits vorexerziert. Die dort dominierende kurdische KDP wurde politisch zum wichtigen Verbündeten Ankaras, während der ölreiche kurdische Nordirak sich wirtschaftlich vom Irak ab- und der Türkei zuwendete. Die kurdische Autonomie stärkte paradoxerweise den antikurdischen türkischen Staat. Zu einem ähnlichen Schwenk könnte es auch mit dem syrischen Kurdistan kommen, das anders als das irakische Kurdistan allerdings vom Erzfeind PKK kontrolliert wird. Erdogan muss sich zunehmend damit abfinden, dass Assad von der bewaffneten Revolte nicht gestürzt werden kann. Auch wenn das für ihn eine verheerende politische Niederlage bedeutet, könnte in letzter Instanz der Spatz in der Hand sich als besser erweisen als die Taube auf dem Dach, zumal damit die durch den Syrien-Konflikt höchst gespannten regionalen Beziehungen und vor allem die Führungsrolle zumindest teilweise wieder repariert werden könnten. Statt dass die PYD in der sensiblen Grenzregion mit Assad gemeinsame Sache macht, könnte sie eine Pufferzone mit dominantem türkischen Einfluss bilden. Wesentlicher Bestandteil einer solchen Variante wäre die Fortsetzung des Ausgleichs mit der PKK, ein Prozess der derzeit ins Stocken geraten zu sein scheint. Dass Ankara und auch die PYD/PKK nicht alle Türen zuschlagen wollen, beweisen die im Hochsommer stattgefundenen Gespräche mit Salih Muslim, der Vorsitzenden der PYD. Ergebnis war, dass die PYD ihre De-facto-Kontrolle über den Norden nicht als Proto-Staat deklariert, sondern als vorübergehende (Not)Selbstverwaltung. Zurück zum Grund für den Ausbruch des bewaffneten Konflikts mit den syrischen Kurden: es geht letztlich um die Zurückweisung des Machtanspruchs der Jihadisten (der sich ihrerseits durch die Rebellion gegen das Assad-Regime legitimieren und nur am Rande über den Jihadi-Salafismus) durch die kurdische Führung.

PYD auf Seiten des Regimes?

Der Vorwurf der bewaffneten Rebellen, auch der Nicht-Jihadisten, lautet auf Kollaboration mit dem Assad-Regime. Historisch waren die Kurden auch in Syrien unterdrückt. Nicht in der gleichen extremen Weise wie in der Türkei, aber sie durften (ähnlich wie alle anderen auch) keine politisch selbständige Regung zeigen. So wurden einer erklecklichen Zahl von Kurden jahrzehntelang die Staatsbürgerschaft verweigert und erst im Zuge der gegenwärtigen Aufstandsbewegung als versöhnliches Zeichen gewährt. Doch nutzte die Assad-Dynastie die PKK immer wieder als Druckmittel gegen Ankara ein, tolerierte sie oder unterstützte sie zeitweilig sogar, um sie gegebenenfalls wieder fallen zu lassen. So wies Assad schließlich Öcalan aus und erklärte ihn damit im Grunde für vogelfrei. So sehr es sich um ungleiche, asymmetrische Partner handelt, zeigt das doch eine instrumentelle Beziehung zwischen Assad-Führung und PKK an. Tatsache ist, dass die PYD sich der Revolte gegenüber sehr skeptisch verhielt, auch in der demokratischen und unbewaffneten Anfangsphase. Im PKK-Milieu tendierten viele zum verschwörungstheoretischen Ansatz, laut jenem der gesamte „arabische Frühling“ eine Machination des US-Imperialismus sei. Die PYD blieb daher neutral und wartete. Das lohne sich letztlich: Assad überließ ihnen lokal die Macht. Für das Regime ist die territoriale Kontrolle durch die PYD, die den Verbleib gewisser militärischer Posten der Armee hinnahm, verständlicherweise das kleinere Übel, zumal diese nicht notwendigerweise das Ziel des Sturz des Regimes verfolgt, sondern sich auf die kurdischen Angelegenheiten beschränkt. In einer späteren Phase, als die bewaffnete Rebellion auf dem Vormarsch erschien, schloss sich die PYD dem “National Co-ordination Body for Democratic Change“ (NCB) an, das bis heute die demokratischen Ziele der Volksbewegung mit ausschließlich friedlichen Mitteln vertreten will. Diese Koalition bekämpfte von Anfang an jede ausländische militärische Intervention und verweigerte systematisch die Anlehnung an westliche Interessen oder solche von regionalen Mächten wie der Türkei. Dafür wurden sie von der bewaffneten Opposition isoliert. Die bewaffneten Rebellen, auch wenn deren Denunzierung als direkte Agenten meist unzutreffend ist, betrachten doch grundsätzlich den Westen als Partner oder zumindest als kleineres Übel. Sie hhoffen und fordern sogar dessen Eingreifen. Das gilt vor allem für die Kulturmoderaten. Die Jihadisten wiederum sind vom Westen sicher unabhängiger, ja ihr offener Feind. Aus der Sicht der bewaffneten Opposition muss die PYD in gewisser Weise also als (weicher) Assad-Verbündeter erscheinen.

Revolutionär-demokratische Positionierung?

Aus einer pragmatisch-realpolitischen Sicht scheint die Position der PYD nicht nur logisch, sondern auch erfolgreich. Noch nie war sie einer kurdischen Autonomie so nahe, selbst wenn die Umstände sehr schnell umschlagen können. Von einem über den engen kurdischen Interessen hinausgehenden Gesichtspunkt wäre es jedoch entscheidend die allgemeinen demokratischen und sozialen Forderungen der arabischen Bevölkerung zu unterstützen. Doch das selbständige, autochthone Moment in der Bewegung wurde von der PYD-PKK immer unter geopolitischen Erwägungen ertränkt. Nicht, dass diese geopolitischen Momente nicht stark wären und sogar dominant werden können. Das bedeutet im Umkehrschluss jedoch nicht, dass die gesamte Rebellion von außen gesteuert würde. Die Grundidee: Die kurdische Selbstbestimmung erhält Legitimität unter der arabischen Mehrheitsbevölkerung durch Beteiligung am und Unterstützung des allgemeinen demokratischen Kampfes. Die Neutralität der PYD bedeutet nicht, dass die kurdischen Rechte damit hinfällig würden. Doch wird es dadurch wesentlich schwerer sie gegenüber der arabischen Mehrheit durchzusetzen. Der gegenwärtige Konflikt ist in gewisser Weise der für die äquidistante Haltung der PYD zu zahlende politische Preis. Das legitimiert den Kampf der Rebellen gegen die PYD nicht, aber macht ihn verständlicher. Zudem hat sich auf der Seite der Rebellion einiges verändert. Aus der demokratischen Volksbewegung ist ein Bürgerkrieg mit starken konfessionellen Vorzeichen und geopolitischer Überlagerung geworden. Die islamischen und islamistischen Rebellen folgen einer rein militärischen Logik. Ein politisches Konzept einer demokratischen Front fehlt oder wird im Spannungsfeld von Geopolitik, Konfessionalismus und Militarismus erdrückt. In einem gewissen Sinn hat die PYD mit ihrer indifferenten Haltung zu dieser Entwicklung mit beigetragen. Aus revolutionär-demokratischer und antiimperialistischer Sicht ist das kurdische Selbstbestimmungsrecht prinzipiell zu unterstützen, genauso wie die demokratischen und sozialen Forderungen der syrisch-arabischen subalternen Massen. So sehr die Jihadisten als politische Zerstörer der demokratischen Volksrevolte abgelehnt werden müssen, so sehr sind die Vermittlungs- und Ausgleichsversuche nach dem Modell Michel Kilos zu begrüßen (selbst wenn er sich nicht für die kurdische Selbstbestimmung ausspricht). Denn sie versuchen das autochthone demokratische Moment beider Seiten zu vermitteln. Ob das gegen Geopolitik und Konfessionalismus noch möglich ist, ist schwer zu sagen. Versucht muss es werden.