Tunesien: Weg aus der Sackgasse?

13.11.2013
Hoffnung auf geordneten Rückzug der Islamisten, um Rückkehr des alten Regimes zu vermeiden
von Wilhelm Langthaler
Von Tunesien nahm die arabische Volksrevolte ihren Ausgang. In den zentralen Ländern Ägypten und Syrien droht sie indes in Repression und Gewalt unterzugehen. Abermals ist es Tunesien, das zur Hoffnung Anlass gibt: Ennahda könnte sich gewaltlos von der Regierung zurückziehen, den Weg zu vorzeitigen Neuwahlen freimachen und damit die demokratischen Errungenschaften vor der drohenden Konterrevolution der alten Eliten bewahren.
Chokri Belaid

Sollte dies gelingen – was keineswegs sicher ist – mag Tunesien als ein echtes Vorbild dienen. Damit könnten die bereits errungenen demokratischen Rechte gefestigt und der Weg zur selbständigen Artikulation und Organisation der Subalternen gegen die sozialen Eliten geebnet werden.

Versuchen wir die Tendenzen in der tunesischen Gesellschaft zu lesen und über das Land hinausgehende Schlussfolgerungen zu ziehen.

1) Einflussverlust der Islamisten

Die islamistische Sammelpartei Ennahda war nach dem Umsturz mit einer satten relativen Mehrheit zur zentralen Kraft der neuen Regierung geworden. Obwohl es zutrifft, dass die Volksbewegung gegen Ben Ali von der Linken geführt worden war und die Islamisten nur eine nachrangige Rolle gespielt hatten, entsprach die führende Position durchaus der Mehrheitsstimmung. Wahlen spiegeln naturgemäß mehr die passiven Teile der Gesellschaft wider als Demonstrationen, bei denen sich die aktiven Elemente Gehör verschaffen. Sie erlangen die Unterstützung der Passiven erst dann, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gibt. Doch Wahlen mit offenem Ausgang boten diese Möglichkeit zum ersten Mal. Auch viele derjenigen, die selbst auf die Straße gegangen waren oder die Volksbewegung unterstützt hatten, gaben Ennahda ihre Stimme als glaubwürdige, artikulierte und organisierte Alternative. Sie suchten damit nicht die Polarisierung, sondern den Ausgleich.

Doch nur innerhalb eines Jahres wandelte sich die Stimmung grundlegend. Die (vielleicht auch überzogenen) Hoffungen wurden schnell enttäuscht. Zuerst wird die Situation durch die soziale Katastrophe geprägt. Nicht, dass irgendjemand in so kurzer Zeit das Ruder hätte herumwerfen können. Doch Ennahda verfügt nicht einmal über eine Idee, kein Konzept außer dem abstrakten Verweis auf den Islam. Sie erscheinen wie eine Maus vor der Schlange des globalen Kapitalismus in der Krise.

Aber es ist nicht nur diese Absetzbewegung aufgrund der andauernden trostlosen sozialen Lage, die vermutlich jeder Regierung zu schaffen machen würde. Es geht um viel mehr, nämlich um einen heftigen Kulturkampf. Ebenso wenig wie der über Jahrzehnte herrschende autoritäre Säkularismus verfügt der Islamismus über kein Konzept einer inhomogenen, nicht nur sozial, sondern auch kulturell diversen Gesellschaft. Er tendiert dazu seine Kultur der gesamten Gesellschaft aufzuzwingen. Die soziale Opposition versucht er mit der Kulturkeule zu erschlagen. Statt des erhofften Ausgleichs brachte der Islamismus also erneut Konfrontation. In Kombination mit dem politischen Machtanspruch kommt es zu einem heftigen Zusammenstoß mit dem laizistischen Block, der selbst ähnlich unduldsam ist. Es bedarf also keiner konfessionellen Minderheiten, um einen konfessionell-kommunalen Konflikt zu provozieren.

An diesem Punkt setzen dann noch die radikalen salafistischen und jihadistischen Tendenzen an, die diese ausschließende Position explizit und bisweilen bewaffnet zum Ausdruck bringen (siehe weiter unten unter 4).

Gleichzeitig verfolgte Ennahta genauso wie ihre Kollegen in Ägypten das politische Konzept, die alten Eliten nicht herauszufordern, ihnen bei der Kontrolle des Staatsapparates Kooperation anzubieten und nur langsam vorzugehen. Während sie also auf die Straßenbewegung aggressiv ausgrenzend reagierten, unternahmen sie die stille Umarmung der alten Eliten. Teile dieser wechselten die Seiten. So kam man der massiven Forderung der Verfolgung und Bestrafung der Täter des alten Regimes nicht nach. Insbesondere in Ägypten aber auch in Tunesien verstanden die Islamisten die mobilisierte, tendenziell linke Straße als Hauptfeind – genau diejenigen, mit deren sie unter der Diktatur kooperiert hatten und mit denen sie gemeinsam die Reste des alten Regimes beseitigen hätten können.

2) Neuerliche Mobilisierung

In dem Maße, in dem die erste Euphorie verflog und die Enttäuschung sich kristallisierte, manifestierte sich abermals Opposition auf der Straße.

Kern der Mobilisierung war die Linke und jenes Milieu, das schon gegen die Diktatur die führende Rolle gespielt hatte – vergleichbar mit dem ägyptischen Tahrir. Es ging natürlich um das Soziale, aber vor allem auch um die Verwirklichung, die Einlösung der demokratischen Forderungen, wie beispielsweise die Sühnung der Verbrechen des alten Regimes, vor der die Islamisten zurückschreckten.

Untrennbar mit der Mobilisierung verbunden ist der Kampf gegen die Islamisierung. Das ist von einem demokratischen Gesichtspunkt aus bis zu einem gewissen Punkt legitim, tendiert aber sehr schnell dazu in gleicher Weise intolerant und antidemokratisch zu werden. Jedenfalls bietet sich an diesem Punkt eine politische Plattform, ein Einfallstor für die Reorganisation der Kräfte des alten Regimes auf der Basis eines französischen, ausschließenden Laizismus. Davon wollten und konnten sich große Teile der Linken nicht abgrenzen und reihen sich in diese Phalanx ein, in der sie unweigerlich nur die zweite Geige spielen können.

3) Reorganisation des alten Regimes um Nida Tounes

Nach den unvermeidlichen Zerfallserscheinungen im Gefolge des Umsturzes und der ersten Schockstarre konnten sich die alten Eliten, die etwas modernisierten Reste des alten Regimes um Essebsi und die Partei Nida Tounes wieder erfangen – jedenfalls besser als in Ägypten. Die Linke lieferte ihr über den Säkularismus (der die islamistischen Unterklassen als Ansprechpartner ausschließt) das Heft im Kampf für die demokratischen Forderungen aus. Zwar mischten sie bei den Straßenmobilisierungen auch mit, doch ihr Hauptargument ist jenes jeder sozialen Elite: Stabilität für die (kapitalistische) Wirtschaft und das ganze System sowie die Beziehungen zu den global Herrschenden. Mit der Vertiefung der sozialen Krise und der Verzweiflung gewinnen solche Argumente über den gesamten Stufenbau der Gesellschaft an Einfluss – zumal verbrämt mit antiislamischem Kommunalismus.

4) Salafitisch-jihadistische Gewalt

Im Februar wurde der zentrale linke Oppositionelle Chokri Belaid ermordet, im Juli folgte ein tödliches Attentat auf Mohamed Brahmi, ebenfalls ein bedeutender Linkspolitiker. Die Regierung blieb passiv. Sie wollte ihre Beziehungen, ja die Einheit mit dem salafistisch-jihadistischen Milieu nicht gefährden, dessen Verselbständigung sie fürchtet. Denn die Einheit der islamischen Kräfte ist für den gesellschaftlichen Machtanspruch wichtig. (Siehe die Spaltung des ägyptischen Islamismus und die Unterstützung der Salafisten für den Putschisten Sissi.) Ennahda bezahlte diese Haltung damit, dass man ihr die politische Verantwortung für die Anschläge anlastete und schließlich die Forderung nach Rücktritt von der Straße massiv erhoben wurde. Eine explosive Gemengelage wie in Ägypten schien sich zusammenzubrauen.

5) Terrorhysterie und abermalige Führungsrolle für die alte Elite

Anders als in Ägypten werden die Sicherheitsapparate vor allem durch Polizei und Geheimdienste bestimmt. Zwar schuf Ennahda einige ihnen ergebene Einheiten, doch versuchten sie die Säuberung des Repressionsapparats als ganzem erst gar nicht. Im Wesentlichen wird dieser nach wie vor von Anhängern des alten Regimes kontrolliert, die nach der Abdankung Ben Alis politisch zerrüttet jedoch vorläufig auf Tauchstation gegangen waren.

Doch mit dem gesellschaftlichen Stimmungswandel und insbesondere den fortgesetzten islamistischen Anschlägen auch auf Sicherheitskräfte, konnten sie politisch Oberwasser gewinnen. Die vom Essebsi-Block dominierten Medien produzieren eine Terrorhysterie nach dem Muster 9/11, in der ein verstärktes, direktes Eingreifen der Sicherheitskräfte in das politische Geschehen denkbar wird. Damit wurde ein Drohszenario gegen Ennahda aufgebaut, auf das die Partei reagierten musste, wollte sie nicht ein ägyptisches Szenario riskieren.

6) Profil- und Bedeutungsverlust der Linken

Wie in Ägypten hat sich mit der Deklarierung der Islamisten zum Hauptfeind (Wendepunkt dafür waren die politischen Morde) die Linke in einen Block mit dem recyclten, alten Regime begeben. Zum Teil führen die Linken den Kulturkampf noch heftiger, so dass Nida Tounes etc. zuweilen sogar als gemäßigte Mitte erscheinen mag. In ihrer Kampagne gegen die Islamisten heult die Linke mit den Wölfen und verliert weiter an Selbständigkeit. Warum zum Schmiedl gehen, wenn sich gleich der Schmied anbietet?

Der Kardinalfehler der Linken liegt darin nicht begreifen zu wollen, dass die Islamisten ein klassenübergreifender, auf kulturalistischer Basis errichteter Block sind, der nach wie vor einen wichtigen Teil der Unter- und Mittelschichten organisiert und führt, die über ihn hoffen ihre sozialen Interessen gegen die nationalen und globalen Eliten durchzusetzen (letztere auf die Laizisten kulturalistisch reduzierend).

Sie haben sich ein Narrativ gezimmert, dass die Islamisten als Hauptstütze des Imperialismus und der Eliten zeigt, die damit die Massen gegen eine laizistische Linke zu kontrollieren versuchen. Die Alternativlosigkeit des Imperialismus, nach den Umstürzen mit den Islamisten zu kooperieren, wird fälschlicherweise als organische Verbindung gedeutet und die historisch tatsächlich organische Beziehung mit den alten Eliten einfach vernachlässigt oder ganz vergessen. Der westliche Hinweis an die ägyptische Junta, einen Ausgleich mit den Muslimbrüdern zu versuchen, wird ebenfalls in dieser Logik gelesen. Tatsächlich ist es aber mehr die Angst vor der Unhaltbarkeit der militärischen Restauration und der Notwendigkeit einer gewissen Öffnung vor allem gegenüber dem politischen Islam, um die Regime stabil und im westlichen Orbit zu halten, die den Imperialismus umtreibt. Er will nicht mit seinen alten Bündnispartnern brechen, sondern fürchtet ob ihrer Schwäche und Brüchigkeit.

7) Nationaler Dialog

Im Gegensatz zu den ägyptischen Muslimbrüdern reagiert Ennahda auf diesen enormen Druck mit der Andeutung eines geordneten Rückzugs – ihnen steht die ägyptische Katastrophe als Rute im Fenster. Gewiss, jede Seite versucht durch taktische Winkelzüge möglichst viel vom Kuchen zu sichern. Das ist normal, insofern Verhandlungen im Allgemeinen zum Inhalt haben einen Kompromiss entsprechend der Kräfteverhältnisse auszuloten. Der alles entscheidende Unterschied zu Ägypten besteht darin, dass der „Nationale Dialog“ eingeleitet wurde, auch wenn er noch scheitern kann.

Einen großen Beitrag leistet das Quartett aus dem Gewerkschaftsverband UGTT, dem Arbeitgeberverband, der Menschenrechtsliga und der Rechtsanwaltskammer, unter deren Ägide die Verhandlungen stattfinden. Es handelt sich keineswegs um neutrale oder unabhängige Institutionen, sondern sie sind natürlich Teil der Gesellschaft und in Verbindung und Abstimmung mit den Eliten. Vermutlich werden sie in der Resultante den Islamisten tendenziell abgeneigt sein. Gleichzeitig bringt ihr Handeln zum Ausdruck, dass in diesem Umfeld eine Rückkehr zu den alten Verhältnissen nicht erwünscht ist und eine substantielle Demokratisierung angestrebt wird. Das bedeutet in der Quintessenz die Islamisten zwar in die Schranken zu weisen, aber sie im System zu halten und mit ihnen einen Kompromiss zu schließen. Letztlich geht es darum sie als wesentliche Komponente der Gesellschaft zu akzeptieren und damit ihre Rechte anzuerkennen.

Ein ägyptisches Szenario – vor dem Ennahda auch mit Recht Angst hat und Garantien zu dessen Verhinderung erwartet – will das Quartett nicht, und damit ein gewichtiger Teil der Gesellschaft und auch der Mittelschichten und der Eliten. Darüber kann der Essebsi-Block und letztlich auch die Sicherheitsapparate unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht hinweggehen. (Was nicht heißt, dass nicht neue Faktoren auftauchen können, die diesbezüglich Veränderungen bewirken können. Gegenwärtig wurden beispielsweise die Gespräche bis auf weiteres unterbrochen.)

Welchen Fehler in ihrer Kampagne gegen die Islamisten wichtige Teile der Linken machen, zeigt sich auch an der Frage der Verfassungsgebenden Versammlung. Tunesien ist das einzige Land der arabischen Revolte, das ein solches hervorragendes demokratisches Instrument hervorgebracht hat. Allerdings hat sich Ennahda als stärkste Fraktion nicht fähig erwiesen einen akzeptablen Kompromiss zu entwerfen, wobei auch die andere Seite ihr Scherflein zum Scheitern beigetragen hat. Dass die Konstituante so nicht arbeitsfähig und letztlich auch nicht mehr repräsentativ ist, liegt auf der Hand. Eine Anpassung, am besten mittels Neuwahlen, würde die veränderten Kräfteverhältnisse und die mit Ennahda gemachten Erfahrungen besser reflektieren. Aber oft wird die gänzliche Auflösung der Versammlung gefordert und ihr Ersatz durch ein Verfassungskomitee wie in anderen Ländern wie Ägypten, wo man gewohnt ist von oben zu oktroyieren. Das hieße das Kind mit dem Bade ausschütten. Es weht der Geist der Aufklärungsdiktatur, die für die „dummen Massen“ nur Verachtung kennt, zumal wenn sie die Islamisten unterstützen. Wenn man indes grundsätzlich an der Konstituante festhält, würde es leichter fallen den „schwarzen Peter“ für ihr Scheitern auch gegenüber ihrer Basis Ennahda zuzuspielen. Dafür müssten sie aber als Dialogpartner verstanden werden.

8) Neuwahlen als temporäres Heilmittel

In der Konfrontation Islamische versus Laizisten drückt sich überwiegend kein Klassenkonflikt aus, sondern es handelt sich um den Zusammenstoß von Kulturgemeinschaften, die sich beide über den Stufenbau der Gesellschaft erstrecken. Beide verfügen sowohl über Anhang ganz unten als auch ganz oben, beide pflegen Verbindungen zur globalen Herrschaft, beinhalten aber auch Elemente der Opposition sowohl zum Imperialismus als auch zu den heimischen Eliten.

Eine klassenmäßige Differenzierung, ein antikapitalistisches und antiimperialistisches gesellschaftliches Projekt ist nur jenseits des Kulturkampfes, jenseits der kommunalistischen Spaltung denkbar. Das bedeutet einen Modus zu finden, wie die zwei Kulturgemeinschaften nebeneinander und mitunter auch miteinander existieren können. Das würde den Subalternen die Möglichkeit geben die nötigen Erfahrungen mit den Islamisten (die bisher immer unterdrückt gewesen waren und sich damit auch als Opposition etablieren konnten) aber auch mit den erneuerten Eliten (die massiv an Einfluss zurückgewinnen konnten) zu machen.

Der allerwichtigste Schritt dazu wären Neuwahlen, organisiert von einer Übergangsregierung oder zumindest einer starken Wahlkommission, die von beiden Seiten akzeptiert wird. Denn trotz aller bekannten Schwierigkeiten der Waffenungleichheit bleiben in Ermangelung aktiver, direkter Massendemokratie Wahlen der beste Modus Kräfteverhältnisse festzustellen und daraus Legitimität abzuleiten.

Vermutlich würde das die Rückkehr der alten Elite unter Essebsis Nida Tounes an die Regierung bedeuten. Aber im Unterschied zu Ägypten käme es keiner Konterrevolution gleich, denn die Islamisten würden nicht unterdrückt werden. Es handelte sich um eine echte Demokratisierung des Regimes.

Man mag zu Recht einwenden: aber ist es nicht genau das, was Washington will? Ja und Nein. Ja, weil sie wissen, dass der jeweilige kommunale Block auf sich allein gestellt zu schwach ist stabil im Interesse des Westens zu herrschen. Denn Instabilität und Konflikt spielt in einer Situation des globalen Machtrückgangs nicht zugunsten der USA als Hegemon. Nein, weil die Demokratisierung die Möglichkeit der Fortsetzung des Arabischen Frühlings im Sinne der selbständigen Artikulation der subalternen Massen bietet.

9) Rettung des Arabischen Frühlings in Tunesien?

Vergegenwärtigen wir uns der Dynamik der arabischen Volksrevolte in ihren großen Linien. Eine mehr oder weniger spontane demokratische und soziale Massenerhebung des verarmten intellektuellen Mittelstands sowie guter Teile der städtischen Armen zwingt die laizistischen Diktaturen, die lokalen Stützen der globalen kapitalistischen Ordnung, zum Rückzug oder zumindest in die Defensive. Wahlen bringen erstmals Islamisten an die Macht, die über Jahrzehnte die Massenopposition gegen die Herrschaft der säkularen Eliten kristallisierten. Die linken Kerne, die beim Aufstand selbst und vor allem bei seiner jahrelangen Vorbereitung eine wichtige Rolle gespielt hatten, wurden abermals marginalisiert.

Doch die Islamisten erweisen sich als nicht in der Lage signifikante Schritte in die Richtung der Realisierung der Hoffnungen der Unter- und Mittelklassen zu machen, wie sie sich in der Revolte ausgedrückt hatten. Ihre Verteidiger werfen ein, dass ihnen nicht die Möglichkeit dazu gegeben worden wäre. Sie seien Opfer der Sabotage der alten Regimes (oder in islamistischer Lesart der Ungläubigen, Kreuzfahrer etc.) geworden. Und das stimmt selbstverständlich. Doch kann das weder als Erklärung noch als Entschuldigung dienen, denn das ist die Existenzbedingung jeder tiefgreifenden sozialen Veränderung. Jede Revolution stößt nicht nur vorher, sondern auch nachher auf den Widerstand der Entmachteten und vor allem der globalen Herren. Die Revolutionäre müssen sich daran messen lassen, wie sie diesen zu überwinden vermögen, welche Kräfte sie zu mobilisieren verstehen.

Statt auf den Tahrir und seine linken Kerne zuzugehen, mit denen man unter der Diktatur da und dort bereits kooperiert hatte, erkor man sich diese zum Hauptfeind aus. In der Mechanik der Blöcke hofften die Islamisten auf eine gewisse Kooperation der alten Elite, deren Interessen man nicht anzutasten wagte.

Der Tahrir rannte dagegen Sturm und sah zunehmend seinerseits die Islamisten als Hauptfeind und Repräsentant der globalen Herrschaft. Doch als diese Proteste abermals zur Massenbewegung zu werden begannen, schwenkten die Reste des alten Regimes um und umarmten den Tahrir. Im hermetischen Käfig des Laizismus gefangen, konnte und wollte sich der Tahrir nicht zur Wehr setzen und untergrub sich selbst.

Die alten Herrscher erhielten unverhofft Oberwasser, zumal die historische Linke ihnen die Macht am Silbertablett anbot. Ganz in der traditionellen pharaonischen Art putschten sie sich in Ägypten zurück an die Macht, bestärkt von der saudischen Reaktion, und restaurierten mit der Zustimmung bis Duldung der Linken (die die Islamisten nach wie vor als faschistische Hauptgefahr an die Wand malten) das alte Regime. Sie verstehen nicht, dass sie so letztlich die Islamisten politisch-historisch gerettet haben, auch wenn jene polizeilich-militärisch einen schweren Schlag hinnehmen haben müssen. Denn der neue Pharao wird bald wieder für die unerträglichen Missstände im Land des Nils verantwortlich gemacht werden und die Islamisten neue Unterstützer finden.

Tunesien folgt derselben Dynamik. Doch der blutige Putsch in Kairo gibt allen Seiten zu denken und mahnt eine andere Lösung an. Diese könnte zu einer wirklichen Demokratisierung führen, die einer antikapitalistischen Bewegung zumindest Bewegungsspielraum gäbe. So viel, wie es ihn in der arabischen Welt seit einem halben Jahrhundert nicht mehr gegeben hat.

Mit Not kann man auch Syrien in dieses Schema pressen. Jedenfalls bietet die harte Repression gegen und militärische Unterdrückung der demokratischen Forderungen dem Islamismus und insbesondere seiner jihadistischen Variante eine großartige politische Plattform. Das wird auch in Ägypten der Fall sein, allerdings mit dem Unterschied, dass die ausländische Unterstützung dem Militärregime und nicht den Jihadis zukommen wird.

10) Strategische Idee: die Massen die Erfahrung des Islamismus machen lassen

Die grundlegende Idee der hier skizzierten politischen Linie ist es, den subalternen Massen die Möglichkeit einzuräumen ihre Erfahrungen mit dem Islamismus zu machen. Man darf nicht glauben, dass der politische Islam ein kurzzeitiges, ephemeres Phänomen sei. Seit 1967, dem Untergang des arabischen Nationalismus als oppositionelle Kraft im Weltsystem, und insbesondere seit 1989/91, dem Ende des globalen Bipolarismus und einer nichtkapitalistischen staatlichen Alternative, schlug der politische Islam tiefe Wurzeln als einzige Alternative zum herrschenden System auch für wesentliche Teile der subalternen Massen. Wie kann man glauben, dass er sich innerhalb von wenigen Monaten verflüchtigen würde?

Der Autor hält den politischen Islam tatsächlich für keine Alternative. Einerseits schafft er es mit seinem Kommunalismus-Konfessionalismus nicht ausreichend Konsens herzustellen. Er kann mit der ausschließenden Linie nicht siegen (die im Libanon beispielweise nicht angewandt wird). Andererseits bietet und will er auch keine Alternative zum realen Kapitalismus, dessen vermittelter Teil er ist. Denn er repräsentiert auch einen Teil der oberen Klassen.

Politisch versperrt er den Weg zu einer antikapitalistischen Alternative. Doch sich mit den alten laizistischen Regimes zu verbünden, dessen Scheitern den Islamismus groß gemacht hat, kommt einem politischen Selbstmord gleich.

Das schlimmste, was dem arabischen Frühling passieren kann, ist die Wiederkehr der alten Regime unter Benutzung der Abstoßungsreaktion gegen die Islamisten. Natürlich tragen die Islamisten selbst dafür die Hauptverantwortung. Aber den politischen Schlüssel hält die Linke in der Hand, denn ohne diese fehlt den Putschisten die Legitimität.

Die grundlegende Aufgabe der nächsten Periode ist es, in einem demokratischen Sinn dem politischen Islam die Chance einzuräumen zu zeigen, was er wirklich ist und kann. Die Massen müssen selbst erkennen dürfen mit welcher Spezies sie es zu tun haben. Die laizistische Erziehungsdiktatur, an der sich überdies die kapitalistischen Klassen schamlos bereicherten, ist unwiderruflich gescheitert. Erst nach diesem Durchgang, der auch der Überwindung des Kommunalismus-Konfessionalismus dient (der damit ein Stück weit als Realität anerkannt werden muss), kann eine antikapitalistische Kraft Massenanhang gewinnen. Ihre Wurzeln kann und muss sie jedoch heute schlagen, in dem sie sich für demokratische und soziale Rechte der subalternen Klassen stark macht. Den politischen Islam machen lassen – bei gleichzeitiger Verteidigung der demokratischen und sozialen Interessen des Volkes.