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Hegemonie II.

11. Mai 2024
V. Albert F. Reiterer

Die Scuola di Barbiana: Inklusion oder hegemoniale Indoktrination – eine Illusion der Emanzipation


Im Intelligenzblatt „heute“ erscheint wöchentlich, montags, eine Seite, gestaltet von einem ehemaligen Schuldirektor. Da lässt sich dieser in einer Mischung aus lehrerhaftem Dünkel und leichter Kritik am Schulsystem über irgendwelche Vorkommnisse aus dem Schulleben aus, welche ihm zu Ohren gekommen sind. Und er benotet sie. Das ist über­haupt ein Lieblings-Stilmittel von Journalisten: Noten geben! Sie sind sich gar nicht bewusst, wie kindisch sie da werden. Aber es ist interessant, wie doch offenbar viele Leute auf eines der fragwürdigsten und verhasstesten Vorgehen der Schul-Erfahrung einsteigen. Das wäre als solches schon ein Element aus den Hegemonie-Prozessen, welches wir untersuchen sollten.

1967 erschien in Florenz ein dünnes und sehr bescheiden gestaltetes Buch: La scuola di Barbiana – Lettera a una professoressa. Es war eine vernichtende Kritik des Bildungs­systems, und nicht nur des italienischen. Es wurde schnell zu einem einflussreichen Buch in der aufflammenden Studenten-Bewegung und in der gesellschaftlichen Rebellion, wel­che diese dort zum Ausbruch brachte. Da schrieben Schüler, die aus dem Bildungssystem hinausgedrängt wurden oder werden sollten, Kinder von Kleinbauern und prekären Prole­tariern. Sie haben sich ihre eigene Schule organisiert, in Barbiana, Toscana. Dabei konn­ten sie auf einen Pfarrer zählen, der sie unterstützte und ermutigte. Das hat aber auch den inhaltlichen Charakter bestimmt.

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Scuola di Barbiana (1974 [1967]), Lettera a una professoressa. Firenze: Libreria editrice fiorentina.

“Die Sekretariate der Parteien auf allen Ebenen sind fest in der Hand von Akademikern. In diesem Punkt unterscheiden sich die Massenparteien nicht von den anderen. Die Arbeiterparteien verschmähen keineswegs die Söhne reicher Herkunft; und die Söhne reicher Herkunft verschmähen die Arbeiterparteien nicht. Handelt es sich doch um Leitungsposten. Und dann wirkt es fein, ‚auf Seiten der Armen’ zu stehen. D. h.: ‚auf Seiten der Armen’ soll heißen ‚Führer der Armen’. … Jene, welche von den alten Verhältnissen profitierten, gestalten die neuen Verhältnisse. … Im Parlament bilden die Akademiker 77 % der Abgeordneten. Sie sollten die Wähler vertreten. Aber unter den Wählern machen die Akademiker 1,8 % aus. Über all diesen Parteien steht eine Super-Partei: die Italienische Akademikerpartei.“

[“Le segreterie dei partitit a tutti i livelli sono saldamente in mano ai laureati. I partiti di massa non si differenziano dagli altri su questo punto. I partiti dei lavoratori non arricciano il naso davanti ai figli di papà. E i figli di papà non arricciano il naso davanti ai partiti dei lavoratori. Purchè si tratti di posti direttivi. Anzi è fine essere ‘coi poveri’. Cioè ‚coi poveri’ volevo dire ‚a capo die poveri’.“ (75 ssg.) “In conclusione vanno a far leggi nuove quelli a cui vanno bene le leggi vecchie. … Alle camere i laureati sono il 77 %. Dovrebbero rappresentare gli elettori. Ma gli elettori laureati sono l’1,8 %. … C’è un partito più grosso dei partito: il Partito Italiano Laureati.” (77)] – i figli di papà, “Pierino”, sind die polemischen Ausdrücke für die italienische jeunesse dorée in dieser Schrift.

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Die „Scuola di Barbiana“ war ein katholischer Maoismus. „Servire al popolo“, „Dem Volke Dienen“, hieß eine der vielen Gruppen der 1970er. Don Milano, der Pfarrer, hat seinen Schützlingen – bei aller Hochachtung, die man vor ihm persönlich aufbringen kann – auch einige höchst fragwürdige Ideen mitgegeben: Da will er z. B. die Lehrerin­nen / Lehrer am liebsten zölibatär leben lassen…

Das Buch leidet an einem ganz fundamentalen Widerspruch. Die Buben der Kleinbauern und prekären Arbeiter aus der Umgebung fordern eine bessere Schule und angemessene Bildung für alle. Die gute Schule wird für sie manchmal direkt zum Ideal ihres jungen Lebens. Die sozialen Strukturen, die ganze Basis der Gesellschaft, kommt dann zwar, aber, man hat den Eindruck, nicht als die eigentlichen Ursachen ihrer Misere, eher als Draufgabe. Und wenn sie ihre professoressa für die Misere verantwortlich machen, so ist dies verständlich, aber ganz wesentlich zu kurz gegriffen. Die Buben, und vermutlich der Pfarrer im Hintergrund, lassen einen geradezu wütenden Anti-Intellektualismus erkennen. Als Intellektuelle stehen für sie die Lehrer und die Professoren der mittleren Schulen. Sie greifen mit Ingrimm die herrschende Pädagogik und die Inhalte an. Aber diese „Wissen­schaftsskepsis“ (© Polaschek) paart sich bei ihnen mit einer wirklichen Naivität: Immer wieder verlangen sie nach der (Ideal-) Schule.

Was die Idealschule aber für die Eliten und ihre Zöglinge wirklich sein soll, zeigt eine der Absurditäten der österreichischen Bildungsreform: die vorwissenschaftliche Arbeit. Die Schüler sollen sich möglichst schon vor der Matura an die Formalitäten und oft Unsinnigkeiten des akademischen Lebens gewöhnen, insbesondere an das „Zitieren“ als ein Kern akademischer Intellektualität.

Die „Schülerschule“, das war der Titel der deutschen Übersetzung, war ein lebendig ge­wordener Widerspruch. Jede Befreiungs-Bewegung sieht sich ihm gegenüber. Intellektu­elle sind eine privilegierte Gruppe. Diese Kaste hat ihre eigene Identität und vor allem auch ihre eigenen Interessen. Dem stehen die Identität und die Interessen des „Volks“ oft diametral gegenüber. Aber gleichzeitig gab es fast immer einige wenige Intellektuelle, die anders dachten und anders handelten. Sie machten sich zu den Sprechern der Unter­drückten und Ausgebeuteten. Sie entwickelten ein Gegenprojekt. Sie wandten sich von ihrer Kaste ab. „Die Leute meiner Klasse gefielen mir nicht“, schrieb Bert Brecht.

Es waren die Thomas Müntzer, die den Aufständischen Bauern 1525 voraus gingen. Es waren die Digger und Leveller, die 100 Jahre später in England festhielten: Die Früchte der Erde gehören allen und die Erde gehört niemandem. Es waren Marx und Lenin, welche die Arbeiter und Bauern dazu aufriefen, eine neue Gesellschaft zu bauen. Sie alle waren Intellektuelle. Sie waren die Ausnahme ihrer Kaste. Sie gaben den spontanen und damit von vorneherein erfolglosen Rebellionen ein Ziel und eine Zukunft. Sie organisier­ten die Menschen.

Aber…

Aus ihrer Haut heraus gestiegen sind sie nicht. Thomas Müntzer blieb Theologe und wunderte sich noch unter der Folter, warum ihm sein Gott nicht zur Hilfe kam. Die Digger und Leveller zogen nach Nordamerika. Dort wollten sie ihr neues Jerusalem auf­richten und vertrieben die störenden Ureinwohner. Marx, Engels und Lenin aber sahen sich nach einer Gefolgschaft um. Mit Hilfe der neuen Klasse wollten sie die von ihnen entworfene neue Gesellschaft konstruieren, als deren Führer. Auf Weitling, einem Sprecher der alten Arbeiter-Bewegung, der aus ihr selbst heraus kam, sah Marx herab. Und Lenin hat Marx und vor allem Engels als unfehlbaren Propheten aufgebaut und hat in seinem Namen, und nicht mehr im konkreten Auftrag der Unterschichten, der Mehrheit der Bevölkerung, den neuen Staat errichtet. Das Proletariat war zu einer abstrakten Ein­heit geworden, zu einem Schema. Die reale Arbeiterklasse mit ihren unterschiedlichen Bedürfnissen des Alltags haben sie oft genug aus den Augen verloren.

Auch die Intellektuellen der Emanzipation wollten schließlich ihre Herrschaft errichten. Bildung macht frei – das haben die Sozialdemokraten hoch gehalten. Noch Kreisky hat den Spruch beim Begräbnis von Franz Jonas angebracht. Aber welche Bildung war das? Franz Jonas war zum höchsten Repräsentant des politischen Herrschaftssystems in Österreich geworden.

Wir stehen vor einer fundamentalen Dialektik revolutionärer und emanzipativer Politik. Was die Buben von Barbiana einfordern, ist Inklusion in die gegebene Gesellschaft. Ist das nicht höchst berechtigt? Aber vergessen wir nicht: Diese Inklusion wurde und wird in der gesellschaftlichen Praxis sofort auch zum „Aufstieg“, d. h.: zur Stabilisierung des gegebenen Systems und der Integration in sie. Das war die Ambivalenz der erfolgreichen Arbeiter-Bewegung. Gewollt war es in der Sozialdemokratie, siehe vorhin Jonas: Die Aufsteiger, die Präsidenten und Präsidentinnen der Gewerkschaften und der Arbeiter­kammern, die Partei-Vorsitzenden hatten schließlich gar nichts mehr mit den von ihnen Vertretenen zu tun. Aber ungewollt war es auch das Schicksal jene revolutionärer Führer, die nach der Machtergreifung so von ihrer eigenen Rolle überzeugt waren, dass sie sich nicht mehr kontrollieren lassen wollten. Rosa Luxemburg hat dies zwar kritisiert, aber höchst abstrakt. Der faschistische Theoretiker Robert Michels, ehemaliger „Linker“ in der deutschen Sozialdemokratie, hat es dann zum „Naturgesetz der Elitenzirkulation“ gemacht: Die Melodie wechselt, aber der Dirigent bleibt.

Dürfen und sollten wir uns nicht mehr auf Marx berufen? Damit wären wir undialektisch, undialektischer als die Buben von Barbiana. Wir müssen antiintellektualistisch sein, gegen Intellektuelle als privilegierte und herrschende (bürokratische) Klasse. Aber nicht antiintellektuell. Jede Befreiungs-Bewegung braucht Intellektuelle – aber nicht die Intellektuellen. Wenn wir uns auf Marx beziehen, erinnern wir an einen Gegen-Intellek­tuellen, der für die Herrschenden zum Gottseibeiuns geworden ist. Allein deswegen lohnt es sich, an ihn zu erinnern.

Es wird offenbar Zeit, dass wir uns damit auseinandersetzen, was Hegemonie tatsächlich ist, und was darunter die Theoretiker und Praktiker der Arbeiterbewegung verstanden. Das kann ein bisschen scholastisch werden, Aber wir kommen nicht ganz drum herum.

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