Rebellion erreicht Assads Heimatstadt

07.10.2012
Michel Kilo: „Umdenken unter den Allawiten“
Wilhelm Langthaler
Am 28. September 2012 soll es in Qardaha, der Heimatstadt der Assads und zahlreicher anderer einflussreicher allawitischer Großfamilien in den Bergen über Lattakia, zu einem bedeutungsschweren Zwischenfall gekommen sein. Mitglieder der Familie Khayyer klagten öffentlich die Assads an, dass sie mit ihrer Politik die Zukunft der Allawiten in Syrien gefährden würden. Mohamed Assad, ein enger Verwandter Baschars, soll die Pistole gezückt und die Kritiker niedergestreckt haben – im Kleinen ganz so wie im Großen.

Das anschließende Feuergefecht soll nach zahlreichen Berichten verschiedener Stimmen der Opposition mehrere Tote gefordert haben. Das „Revolutionäre Koordinationskomitee Qardaha“, dessen bloße Existenz bereits eine Sensation ist, berichtete am 1. Oktober, dass Mohamed al Assad im Krankenhaus von Tartous seinen Wunden erlegen sei. Syrische Webseiten melden, dass die Stadt von regierungstreuen Truppen abgeriegelt und Kommunikationsnetzwerke zeitweilig unterbrochen wurden.

Konflikte zwischen den Familienclans sind indes nichts Neues. In den letzten Jahren drehten sie sich aber vor allem um mafiöse Geschäfte, den Qardaha gilt auch als ein Zentrum der Shabiha, der aus der Mafia entstandenen regierungstreuen Milizen. So sehr die illegalen Geschäfte vom Regime insgesamt protegiert wurden, konnten Konflikte nicht immer unterdrückt werden.

Diesmal handelt es sich jedoch um einen explizit politischen Konflikt.

Unmittelbaren Anlass gab das Verschwinden von Abdelaziz al Khayyer am 20. September, einem Mitglied der allawitischen Großfamilie Khayyer. Von Peking kommend, wollte er an der Oppositionskonferenz vom 23. desselben Monats teilnehmen, die auch von Russland, China und dem Iran unterstützt wurde. Deren wichtigste Botschaft war, dass die Revolution zu Verhandlungen über einen friedlichen Übergang zur Demokratie bereit ist. Nach Angaben des „National Co-ordination Body for Democratic Change“ (NCB), das die Konferenz ausrichtete, wurde er vom Luftwaffengeheimdienst inhaftiert. Auf diese Weise demonstrierte der „tiefe Staat“, was er wirklich von Verhandlungen hält. Nach außen hin und auch für seine Verbündeten macht er aber gute Miene und beschuldigt „terroristische Gruppen“ für das Verschwinden al Khayyers. Laut Kennern des Regimes sind sein Leben und das seiner zwei Kollegen in akuter Gefahr. Denn die Sicherheitsapparate werden sich kaum die Blöße geben Menschen freizulassen, deren Festsetzung sie nicht zugeben.

Laut der zentralen Oppositionsfigur Michel Kilo drücken die Ereignisse in Qardaha eine tiefe Unzufriedenheit im allawitischen Milieu mit der Politik den herrschenden allawitischen Familien Assad, Shalish und Makhlouf aus, die allesamt aus dem Ort Qardaha stammen, der auch das Mausoleum für den Begründer der Assad-Dynastie Hafiz beherbergt. Exponenten der Khayyers meinen, dass die Linie der Assads, die demokratischen Forderungen in Blut zu ertränken, die Zukunft der Allawiten als Gruppe in Gefahr bringt. Hinter ihnen stehen auch die Othmans sowie die Abouds, die allesamt ranghohe Militärs und Offiziere der Sicherheitsapparate stellen. Mittlerweise ist vielen dieser Familien, die durchaus Teil des Regimes sind, ihr eigener Blutzoll zu hoch. Auch die Rekrutierung neuer Shabiha stößt zunehmend auf Schwierigkeiten, die zu offenem Widerstand umschlagen könnte.

Jedoch haben diese politischen Gegensätze auch historische Wurzeln. Die Khayyers und ihre Verbündeten sind angesehene Familien, die nicht nur eine intellektuelle Elite von Ärzten, Rechtsanwälten, Künstlern und Schriftstellern hervorgebracht haben. Viele von ihnen waren immer Teil der Opposition gegen die Herrschaft der Assads, so wie beispielsweise Abdelaziz. Überhaupt meint Michel Kilo, dass die Mehrheit der allawitischen Intelligenzija das Regime ablehnte und auch heute noch ablehnt.

Der bekannte Dichter Hassan al Khayyer sang folgende Zeilen:

„Was soll ich sagen
Die Wahrheit auszusprechen bedeutet Peitschenhiebe und eine dunkle, nasse Gefängniszelle“

Er verschwand 1979. Mithäftlinge erzählten, dass ihm vor der Exekution die Zunge herausgeschnitten wurde. Bis heute ist sein Verbleib unbekannt.

Im Gegensatz dazu sind die Assads Militär-Parvenues. Erst die von Hafiz begründete Familienherrschaft ermöglichte ihren sozialen Aufstieg.

Von Seiten der modernen, städtischen allawitischen Intelligenz, die überwiegend links und panarabisch eingestellt war und ist, wird gerne an die Kollaboration der Assads mit dem französischen Kolonialismus hingewiesen. Nach der Machtübernahme der Franzosen entwickelte sich ein antikolonialer Aufstand, der seinen Schwerpunkt unter den Allawiten hatte, aber letztlich eine gesamtsyrische Bewegung war. Nach der Niederschlagung reagierten die Franzosen mit divide et impera. Sie richteten ein allawitisches Verwaltungsgebiet ein, das zu einem selbständigen allawitischen Staat hätte werden können. Als die französische Linksregierung unter dem Eindruck der antikolonialen Mobilisierungen an ein Ende des Mandats zu denken begann, forderten die konservativeren und kommunitaristischen Allawitenführer Paris dazu auf, das Land nicht zu verlassen. Ein Brief mit Eingangsstempel vom 15. Juni 1936 an das Kabinett Leon Blum trägt unter anderen die Unterschrift von Baschars Urgroßvater Suleiman.

In den westlichen Medien wird gerne vom Allawitenstaat als letzte Option im Gefolge eines Bürgerkriegs gesprochen. Das wird jedoch bis heute nicht nur von den allawitischen Intellektuellen abgelehnt, sondern auch von den breiten Massen. Durch den sozialen Wandel hat sich der Schwerpunkt der allawitischen Bevölkerung in die großen Städte verschoben. Zudem gab und gibt sich das Assad-Regime immer panarabisch, denn es ist ja auf Basis der panarabischen Baath-Partei an die Macht gekommen. Auch Michel Kilo bestätigt im Gespräch, dass diese Idee unter den Allawiten nicht vorhanden ist. Auch sie wollen ein gemeinsames Syrien, wobei nicht vergessen werden darf, dass sie sowohl unter den Osmanen als auch unter den Franzosen eine sozial unterdrückte Minderheit von abhängigen Bauern und Dienern stellten. Ihre bisherige Treue zum Regime rührt auch daher, dass sie Angst haben, wieder auf diesen untergeordneten Status zurückgeworfen zu werden.

Der Masse der Allawiten diese Ängste zu nehmen, das zu minimieren, was ihrerseits als sunnitischer Revanchismus interpretiert werden kann, ist eine der entscheidenden Aufgaben der Opposition. Darum bekämpfen die demokratischen Kräfte und auch viele aufgeklärte islamischen Tendenzen den Konfessionalismus nicht nur, sondern denunzieren ihn als ein Instrument des Regimes. Immer wieder hört man den Vorwurf, dass die Assads den Salafismus und den sunnitischen Konfessionalismus aktiv förderten und fördern, um einen Popanz zu haben, mit dem sie den Krieg gegen das eigene Volk legitimieren können. Gleichzeitig schlägt man gegen Oppositionelle mit allawitischen Hintergrund und Demokraten im Allgemeinen besonders hart, denn sie sind der gefährlichere Feind als der Salafismus.

Die Ereignisse von Qardaha geben jedenfalls Anlass zur Hoffnung, dass sich die konfesssionell-kommunitaristische allawitische Basis des Regimes zersetzt, was wiederum den demokratische Kräften der Rebellion gegen den sunnitisch konfessionell-kommunitaristischen Kräften, die vom Golf gefördert werden, Auftrieb geben wird. Die demokratische Opposition besteht indes darauf, dass es sich im Kern nach wie vor um eine demokratische überkonfessionelle Revolution handelt und nicht um einen konfessionell-kommunitaristischen Bürgerkrieg.