Mosul: unerwünschte Befreier?

14.11.2016
Die Gefahr eines Massakers und die Notwendigkeit eines politischen Ausgleichs
von Wilhelm Langthaler
Es scheint eine alle Seiten und Ideologien überspannende Front zu geben: Washington und Moskau sind sich genauso einig wie christliche Fundamentalisten und Linke: das Absolut Böse, der islamische Faschismus muss ausgeräuchert werden, koste es was es wolle. Dass dabei mit einer Million Flüchtlingen gerechnet wird, scheint weiteren Aufhebens nicht wert – obwohl kein einziges Einzelereignis des gegenwärtigen nahöstlichen Bürgerkrieges eine solch enorme Zahl an IDPs (Internally Displaced Persons) hervorgebracht hat. Die politische Frage, warum ein paar Tausend Jihadis eine Millionenstadt in Schach zu halten vermögen trotz des Angriffs einer militärisch weit überlegenen Koalition, wird nicht gestellt. Das würde nämlich zum einzig möglichen Schluss führen, dass nämlich die Angreifer nicht als Befreier willkommen sind.

Warum Isis die Macht in Mosul übernehmen konnte

Vergegenwärtigen wir uns die Ursachen die 2014 zur Implosion der irakischen Armee und zur praktisch kampflosen Übernahme Mosuls durch den Islamischen Staat geführt hatten. Es darf nicht vergessen werden, dass Mosul so etwas wie die Hauptstadt der alten irakischen Armee war, jene vor der Debaathizierung durch die US-Besatzung. Durch die Machtübertragung an das neu geschaffene proiranische schiitisch-islamistischen Regime wurden die Kräfte des arabischen Nationalismus und jene des sunnitischen Islamismus institutionell marginalisiert und in den Untergrund gedrängt. Angesichts des Widerstands gegen die Besatzung versuchten die USA mit der Sahwa-Operation („Erwachen“) noch gegenzusteuern, bei der sunnitische Kräfte vor allem in Anbar militärisch und in einem gewissen Maß auch sozial und politisch eingebunden wurden. Nach dem weitgehenden US-Abzug hat das Maliki-Regime diese Ansätze wieder rückgängig gemacht und voll auf den schiitischen Konfessionalismus gesetzt.

Die Unzufriedenheit seitens der nordirakischen arabisch-sunnitischen Bevölkerung war überall spürbar, Mosul sein konzentriertes Habitat, wo das Bagdader Regime als Fremdherrschaft empfunden wurde. Selbst der heutige Kommandant der Militäroperation gegen Mosul, Generalmajor Najim al-Jabouri, räumt ein: „Hätte die lokale Bevölkerung dem IS keinen Schutz gewährt, hätten sie niemals in dieser Stärke wachsen können.“ Mosul fiel wie eine reife Frucht in die Hände des IS. Es handelte sich um eine Kombination eines arabisch-islamischen Volksaufstandes mit einem jihadistischen Putsch. Wir haben das unmittelbar nach den Ereignissen als „Rache des irakischen Widerstands“ beschrieben.

Die irakische Armee erwies sich als kampfunwillig und -unfähig. Geschwächt durch den amerikanischen Teilabzug, verfiel sie in Korruption und wurde als Versorgungsposition verstanden. Es gab keine Kampfmoral gegen den Aufstand vorzugehen. Gleich 10-20% der Soldaten desertierten.

In der Folge war es für die Armee unmöglich trotz zahlreicher Proklamationen einen erfolgversprechenden Angriff auf Mosul zu starten. Sie hatte schon enorme Probleme bei der Unterdrückung des Aufstandes in viel kleineren Städten wie Falluja, Ramadi oder auch Tikrit. Es bedurfte des massiven Einsatzes der US-Luftwaffe, die aber ihr Engagement an die Zurückhaltung der der Armee angegliederten schiitischen Milizen band. Diese wiederum hatten unter Maliki ihre Macht stärken können und die Armee war ihrerseits zu schwach und zu wenig motiviert.

USA als Architekt des neuen Angriffs

Im syrischen Bürgerkrieg wiederum befinden sich die USA in der Zwickmühle. Sie haben zwei Feinde, einerseits das von Moskau gestützte Assad-Regime, andererseits den immer stärker werdenden Jihadismus, deren verschiedene Fraktionen von den US-Verbündeten in der Region unterstützt werden. Der Versuch loyale Kräfte in Form der „Freien Syrischen Armee“ aufzubauen, scheiterte kläglich. Das Gewicht der in den letzten zwei Jahren immer stärker unterstützten Pro-PKK-Kurden reicht einerseits nicht aus, um entscheidenden Einfluss auf den Ausgang des Krieges zu nehmen, andererseits stößt er den wichtigsten Verbündeten in der Region und Nato-Staat Türkei vor den Kopf.

Solange die USA in Syrien selbst nicht eingreifen wollen, liegt für sie der Schlüssel im Irak. Dort ist der IS entstanden auch als Folge der US-Besatzung und des von dieser initiierten regime change. Wollen sie den globalen Jihadismus begrenzen, müssen sie zuerst den IS im Irak bekämpfen und ihm vor allem die politische Grundlage entziehen.

Militärisches Rückgrat ihres Engagements sind die „Iraqi Special Operations Forces“ (ISOF) und ihre Untereinheit „Counter Terrorism Services“ (CTS), eine Spezialeinheit mit gewissen Distanz zur Armee zu der die USA privilegierte Beziehungen unterhalten. Sie wird von den USA seit dem Aufstieg des Islamischen Staates verstärkt entwickelt, ausgerüstet und auf allen Ebenen unterstützt. Unter Führung dieser Kräfte, die ungefähr 15.000 Mann zählen, soll die irakische Armee im Allgemeinen kampffähig gemacht werden.

Entscheidend für das Gelingen der Mosul-Operation ist natürlich der Einsatz der US-Luftwaffe und der Coalition Forces, die aber ihrerseits auf verlässliche Bodentruppen angewiesen sind.

An dieser Stelle zeigt sich auch die Verkehrtheit des Narratives, das sich in einem Teil der Linken hartnäckig hält, nachdem der Jihadimus im Allgemeinen sowie al Qaida und Isis im Besonderen von den USA geschaffen und unterstützt würden. Verwandt dazu ist die abgeschwächte Variante, dass die USA Interesse am Chaos hätten.

Offensichtliche Tatsache ist vielmehr, dass die USA die Hauptkraft hinter dem Angriff auf den IS im Irak ist. In Syrien ist das nicht so klar, nachdem sie dort über keine ausreichenden und verlässlichen stellvertretenden Bodentruppen verfügen. Hätten sie die Jihadis tatsächlich so unterstützt, wie sie das bei der irakischen Regierung tun, wäre Assad schon lange gefallen. Warum taten sie das nicht? Ganz einfach, weil sie Angst vor der Machtausdehnung der Jihadis haben. Das Chaos, in dem diese sich ausbreiten, ist ein Anzeiger des zunehmenden Machtverlusts Washingtons und kann den USA nicht recht sein. Daher suchen sie für den Irak eine Lösung, die dann eventuell auf Syrien ausgedehnt werden könnte. In Syrien haben sie allerdings das grundlegende Problem, dass sie keiner der beiden Seiten zum Sieg verhelfen wollen.

Politische Widersprüche in der Phalanx – Schiiten, Kurden, Turkmenen

Den USA ist seit Sahwa klar, dass sie ihr militärischen Vorgehen mit einer politischen Operation zur Einbindung der arabisch-sunnitischen Milieus flankieren müssen. Nur so kann den Jihadis der Boden entzogen werden. Doch dabei stoßen sie auf enorme Schwierigkeiten, die mit ihren eigenen historischen Weichenstellungen zusammenhängen, nämlich einerseits dem schiitischen Islamismus im Zweistromland an die Macht gebracht und andererseits die irakischen Kurden gegen das Saddam-Regime unterstützt zu haben. Das können sie nicht rückgängig machen, was ihre Optionen stark einschränkt.

Die schiitischen Milizen, die ähnlich konfessionell agieren wie die sunnitischen Jihadisten, konnten bei der gegenwärtigen Kampagne etwas in den Hintergrund gedrängt werden. Beteiligt bleiben sie dennoch. Die Aussagen ihrer Führer rufen zur konfessionellen Revanche. Zudem ist auch die Armee selbst schiitisch dominiert, und zwar nicht nur in ihrer Zusammensetzung, sondern auch politisch. Man braucht sich nur die Fahnen anzusehen, die neben jenen des Staates und der Armee allenthalben zur Schau gestellt werden.

Ähnliches gilt für die kurdischen Peschmerga, die ebenfalls Anspruch auf Mosul erheben. Sie sind am Angriff beteiligt, auch wenn die Armee versucht ihre Rolle in Grenzen zu halten. Indirekte Unterstützung erhalten sie von der Türkei.

Und dann ist da noch das direkte Eingreifen der Türkei mittels der Turkmenen, allerdings nur den sunnitischen. Historisch erhob die Türkei selbst Anspruch auf Mosul und neuerdings attackiert Erdogan gerne wieder den Frieden von Lausanne, der den Verlust von Mosul und Aleppo festschrieb. Jedenfalls wollen sie als sunnitisch-konfessionelle Macht eine weitere Ausdehnung der schiitischen und proiranischen Kräfte mit allen Mitteln verhindern. Sie forderten eine militärische Beteiligung an den Kämpfen, die jedoch von Bagdad vehement abgelehnt wird. Sie bringen dabei die Rechte der Turkmenen ins Spiel, doch unter diesen gibt es eine signifikante schiitische Minderheit, die vom IS aus der größten mehrheitlich turkmenischen Stadt, Tal Afar, vertrieben wurden. In diesem Fall schlägt der sunnitischen Konfessionalismus den türkischen Nationalismus. Für den arabischen Nationalismus wiederum, auf dessen Boden der Jihadismus zumindest teilweise gewachsen ist, müssen alle türkischen Ansprüche abgewiesen werden.

Wer bekommt die Macht in Mosul – und die Gefahr eines Massakers

Die militärische Übermacht ist durch das amerikanische Engagement drückend und es scheint unwahrscheinlich, dass der IS Mosul wird halten können. Bisher leistet er jedoch heftigen Widerstand und von einem Volksaufstand, der die Befreier willkommen hieße, kann keine Rede sein.

Doch eine politische Kraft oder Koalition, die Mosul übernehmen könnte und über ausreichende Legitimität in der arabisch-sunnitischen Bevölkerung verfügen würde, ist nicht in Sicht. Das Bagdader Regime hat alles dafür getan, eine solche Konkurrenz gar nicht aufkommen zu lassen. Angebliche arabisch-sunnitische Milizen, die sich am Angriff beteiligen würden, sind gesichtslos geblieben und haben offensichtlich wenig Gewicht, geschweige denn, dass sie eine politische Alternative darstellen könnten. Mit den alten Baath-Kräften und den Strömungen des Widerstands gegen die US-Besatzung, die eine Alternative darstellen könnten, will man weiter nichts zu tun haben.

Aus Bagdad hört man das Projekt eines Militärgouverneurs, sowie die Wiedereinsetzung der abgehalfterten politischen Führung von vor 2014. Außer dem Versuch die Armee möglichst wenig konfessionell erscheinen zu lassen und die anderen am Angriff beteiligten Kräfte nicht in das Stadtgebiet vordringen zu lassen, scheint es keinerlei politisches Angebot an die arabisch-sunnitische Bevölkerung zu geben. Für viele mag es also eine Wahl zwischen Skylla und Charybdis sein, für manche wird der IS das kleinere Übel bleiben und ein paar echte Anhänger wird er sicher noch haben, denn der jihadistische Salafismus hat in der sunnitisch-arabischen Welt tiefe Wurzeln geschlagen.

So warnt Generalmajor Jabouri: „Selbst die stärksten Sicherheitskräfte werden den IS nicht schlagen können, wenn sie nicht die Unterstützung der lokalen Bevölkerung zu gewinnen vermögen.“ Es ist also möglich, dass die Befreiung zur feindlichen Eroberung wird und in einem präzedenzlosen Massaker enden könnte. Falluja, Tikrit, Hit, Ramadi usw. mögen als abschreckende Beispiele dienen. Dort wurden nicht nur bedeutende Teile der Städte zerstört, die Bevölkerung flüchtete oder wurde vertrieben, sondern bis heute ist die Lage gespannt und es herrscht eine Form von lokaler Militärdiktatur. Es ist kein Zufall, dass dem IS, der die territoriale Kontrolle verloren hat, immer wieder Terroranschläge und auch großangelegte Guerillaaktionen gelingen. Offensichtlich verfügt er über erhebliche Unterstützung in der Bevölkerung, die natürlich das Vorgehen des Bagdader Regimes in Erinnerung behält.

Awni al Kalemji, ein Vertreter der Quwmiyoun, des linken Flügels der Arabischen Nationalisten, der in der Folge als einer der politischen Sprecher des irakischen Widerstands fungierte, meint: „Daesh wird die territoriale Kontrolle verlieren. Aber man soll nicht glauben, dass sie damit weg sind. Diese Ideologie hat eine Basis im Irak. Solange das von der Besatzung in Bagdad installierte Regime bleibt, wird auch weiter eine Guerillabewegung existieren und Anschläge machen. Daher rufe ich zur Fortsetzung der Revolution gegen Abadi & Co auf.“ (Gespräch vom Autor geführt am 14.11.2016)

Politischer Ausgleich als Lösung des Bürgerkriegs?

Wir lehnen grundsätzliche jede amerikanische und westliche Einmischung und militärische Intervention ab, die nur zum Nachteil der Menschen sein kann. Denn wir sind für Selbstbestimmung, Demokratie und soziale Gerechtigkeit – und die wurden noch nie von US-Bomben gebracht. Darum lehnen wir den gegenwärtigen Angriff auf Mosul auch ab und verurteilen das Schweigen der Friedensbewegung und der Linken.

Doch müssen wir uns die Frage stellen lassen, was es für Alternativen gibt. Die Antwort darauf ist nicht simpel. Vor allem was heißt Selbstbestimmung im gegenwärtigen Kontext des Scheiterns der demokratischen Massenbewegungen des Arabischen Frühlings und des verallgemeinerten konfessionellen Bürgerkriegs? Bereits 2014 haben wir Überlegungen dazu angestellt, an die hier nun angeknüpft werden soll.

Zunächst zum Konfessionalismus: Es gibt zwei extreme Pole. Die einen, die davon ausgehen, dass die Konfession schon immer die zentrale identitäre Triebkraft in der Region war, während die Nation und der Sozialismus fremden, aufgezwungenen Konzepten entsprang. Die anderen, die bis heute jedes autochthone Moment des Konfessionalismus leugnen, und es gänzlich der imperialistischen Intervention und Machination zuschreiben.

Wir gehen jedoch von der historischen Veränderlichkeit der verschiedenen identitären Momente aus, sowie deren Vielschichtigkeit auch bezüglich der Staatsbildung. Tatsache ist jedoch für uns, dass die Entwicklung des letzten Jahrzehnts, allen voran die US-Besatzung des Iraks, der saudisch-iranische Konflikt um Hegemonie, der lange Zyklus des politischen Islam als Opposition zu den lokalen Regimen des globalen Herrschaftssystems das konfessionelle Moment enorm gestärkt haben. Insbesondere das Scheitern der sozialen und demokratischen Volksrevolten und ihre Umwandlung in konfessionelle Bürgerkriege hat diesem Trend enormen Auftrieb gegeben.

Nimmt man das zur Kenntnis, dann muss Selbstbestimmung bis zu einem gewissen Grad auch die Anerkennung dieser konfessionellen Identitäten mit enthalten, allerdings als eine Ebene unter mehreren. Waffenstillstände müssen der Ausgangspunkt dazu sein, doch sie stoßen sehr schnell an die Grenzen der Identitäten, die niemals homogen sind. Das Scheitern des Islamischen Staats, der als ein homogenisierendes Experiment angesehen werden kann, legt davon Zeugnis ab. Insofern legt die Anerkennung der konfessionellen Identitäten erst den Grundstein ihrer Überwindung, während ihre Unterdrückung sie weiter forciert.

Man kann das als Verallgemeinerung des Leninschen Konzepts der nationalen Selbstbestimmung betrachten. National wird dabei auf identitär erweitert. Die territoriale Kontrolle bleibt von zentraler Bedeutung, nur muss sie von mehreren Ebenen geteilt werden und verfließt daher mehr und bereitet den späteren Zusammenschluss vor.

Für den Irak bedeutet das, dem sunnitisch-arabischen Nordwesten mit der Metropole Mosul eine weitreichende Autonomie zu gewähren, so wie sie auch die Kurden erhalten haben und sich der arabisch-schiitische Süden mit US-Hilfe genommen hat. Für gewisse Städte oder Regionen wie Bagdad, Kirkuk, Tel Afar oder Sinjar bedarf es Sonderregelungen, sowie Garantien für die jeweiligen Minderheiten. Damit können auch die kolonialen Sykes-Piquot-Grenzen aufgeweicht werden, die einer solchen Selbstbestimmung entgegenstehen, ohne gleich abermals ebenso problematische neu Grenzen zu ziehen.

Für Syrien gilt methodisch ähnliches, auch wenn das hier nicht Thema ist. Jedenfalls schafft ein solcher Interessensausgleich der verschiedenen Identitäten erst die Möglichkeit die Einmischung westlicher und regionaler Mächte abzuwehren und auch Selbstbestimmung wirtschaftlich abzusichern.